Nur die Liebe kann heilen – 5. Sonntag der Osterzeit C

Aus dem Evangelium nach Johannes, Kapitel 13
31 Als Judas vom Mahl hinausgegangen war, sagte Jesus: Jetzt ist der Menschensohn verherrlicht und Gott ist in ihm verherrlicht.
32 Wenn Gott in ihm verherrlicht ist, wird auch Gott ihn in sich verherrlichen, und er wird ihn bald verherrlichen.
33a Meine Kinder, ich bin nur noch kurze Zeit bei euch.
34 Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben.
35 Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger – und Jüngerinnen – seid: wenn ihr einander liebt.

Kreuz mit Herz (1)
Autorin:
Sigrid Haas, Diplomtheologin in Mannheim

 
Die Predigt:
Nur die Liebe kann heilen

Liebe Leserin, lieber Leser,
Wenn Jesus heute auf die Erde kommen würde – was würde er sehen…? In Familien, Kirchengemeinden und Bischofspalästen? In Schulen, Universitäten, Krankenhäusern, Altersheimen und Arztpraxen? In Geschäften, Sportstadien, Konzerthallen und Vereinen? In Fabriken, Büros und Banken? In Polizeirevieren und Bundeswehrkasernen? In Landesparlamenten, im Bundestag, im Europa-Parlament?

Könnte er seine Jünger und Jüngerinnen erkennen, weil sie das „neue Gebot“ leben…?

Das neue Gebot im Kontext der Leidensgeschichte
Dem Lesungstext voraus gehen die Fußwaschung und der Verrat des Judas’, kurz danach folgt der dreimalige Verrat durch Petrus. Für den Evangelisten Johannes hat die Fußwaschung mehr Bedeutung als das Abendmahl mit seiner sakramentalen Dimension. Das Teilen von Brot und Wein verbindet sowohl die Jünger mit Jesus als auch untereinander. Dagegen ist die Fußwaschung, die sonst nur Sklaven machen, eine Begegnung nur zwischen Jesus und dem einzelnen Jünger. Diese besondere Nähe wird durch die körperliche Berührung mit allen Sinnen fühlbar, be-greifbar.

Jesus gibt dem eigentlichen Sklavendienst eine neue Bedeutung. Er lässt diese Arbeit zu einer intimen, zärtlichen Begegnung werden, in der er seine bedingungslose Liebe und Vergebung für jeden Einzelnen ausdrückt. Denn er wäscht den beiden Verrätern Judas und Petrus ebenfalls die Füße

Vielleicht ist sein Niederknien auch eine versteckte Bitte um Vergebung…? Denn sein kompromissloses, konsequentes leben seiner Berufung führt ja zu einem frühen, grausamen Tod, der für seine Jünger, Jüngerinnen und natürlich seine Mutter eine totale Katastrophe, ein unendlich tiefer Schmerz und Verlust ist…!

Jesus hat sich niemals gerächt oder verteidigt. Nicht einmal, als er der Gotteslästerung beschuldigt und deshalb zum Tod verurteilt wird. Das neue Gebot lebt er konsequent bis zum Tod und betet noch sterbend: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!

Meine Kinder
Jesus verwendet im Hinblick auf seinen Heimgang zum Abschied die liebevolle Anrede: meine Kinder. Angesichts von gestandenen Männern, deren Vater er ja nicht einmal ist, ziemlich außergewöhnlich…Dadurch betont er jedoch noch einmal die besondere Art und Tiefe der Beziehung sowie die besondere Bedeutung seines Vermächtnisses an sie.

Das neue Gebot
Im alttestamentlichen Liebesgebot war der Maßstab der Nächstenliebe die Selbstliebe. Jesus hat dieses Liebesgebot bereits in der Bergpredigt um die Feindesliebe erweitert (Lk 6,27). Damit ist sie schon Teil des neuen Gebotes. Im nächsten Schritt geht Jesus nun noch weiter – er selbst ist der Maßstab.

Wie ich euch geliebt habe
Dieses neue Gebot, die Essenz seiner Botschaft und seines ganzen Lebens, ist jedoch nicht nur ein weiteres zu den vielen damaligen Geboten. Sondern Jesus gibt seinen Jüngern einen ganz besonderen Auftrag von großer Tragweite und ist als leuchtendes Beispiel vorangegangen. Ihr eigenes, tägliches Leben soll ein sichtbares Zeichen für die Welt und in der Welt sein – und er selbst ist der Maßstab dafür.

Wie ich euch geliebt habe heißt also nicht nur gute Werke, gegenseitige Hilfe und ein bisschen Vergebung, sondern bedingungslose Liebe und Vergebung bis zum Äußersten, ja sogar bis zur Hingabe des eigenen Lebens…! Aber ist das nicht ein praktisch unerfüllbar Auftrag für uns Menschen…?

Ein lebenslanger Prozess
Wenn wir Jesu Auftrag als lebenslangen Prozess sehen, dann ist vieles möglich, auch wenn das natürlich sehr herausfordernd ist. Dazu gehört zuerst einmal, uns bewusst zu machen, dass ausnahmslos jeder Mensch sich genau nach dieser bedingungslosen Liebe und Vergebung sowie Nähe und Gemeinschaft sehnt…! Für manche Menschen ist es allerdings schwer zu ertragen, weil sie sich nicht würdig fühlen, eine solche Liebe zu empfangen.

Studien an Babys haben gezeigt, dass sie Schwächeren immer helfen wollen. Doch erleben sie, dass ältere Kinder und Erwachsene dies nicht immer tun oder dass Ungehorsam bestraft wird. Und je mehr sie das sehen, desto schneller übernehmen sie dieses Verhalten, um dazu zu gehören und geben es später an ihre eigenen Kinder weiter.

Nur wenige Menschen haben das Glück, bedingungslos geliebt zu werden. Deshalb bleiben die meisten gefangen im alttestamentlichen Auge um Auge – Denken und Verhalten. Böse Gedanken, Worte und Taten sind in Wahrheit nur der verzweifelte Schrei nach Liebe und Nähe. Die äußeren Kriege sind ja nur ein Abbild der Kriege in unserem Inneren.

Jeder Mensch wird als unschuldiges Baby geboren. Sehr viele Kinder erleben jedoch Lieblosigkeit, Demütigungen, Bestrafung und Gewalt. Um zu überleben, passen sie sich an und unterdrücken Schmerz, Hilflosigkeit, Verzweiflung und Wut. Verdrängte Gefühle und Verletzungen führen aber nicht nur zu lieblosem Verhalten gegenüber anderen, sondern auch zu Krankheiten. Die Kinderpsychologin Alice Miller hat durch ihre Forschungen über die Lebensläufe von Diktatoren und Serienmördern einen wichtigen Beitrag zu diesem Thema geleistet.

Verständnis und Mitgefühl entwickeln
Natürlich wäre es viel einfacher, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, so wie das alttestamentliche Auge um Auge. Ja, auf den ersten Blick sicher. Doch so kann der Kreislauf des Bösen nie beendet werden. Aber wir können Verständnis und Mitgefühl entwickeln, wenn wir verstehen lernen, warum Menschen überhaupt Böses tun. Und es hilft uns selbst auch, mehr inneren Frieden zu finden. Wenn wir uns täglich bewusst machen, dass diese Menschen ganz besonders unserer bedingungslosen Liebe und Vergebung bedürfen, wird uns das allmählich immer besser gelingen.

Der schwierige Prozess der Vergebung
Jesus hat ja sogar seinen Mördern vergeben. Ein sehr harter Brocken, den wir da schlucken sollen…! Und genauso sollen auch wir lieben und einander vergeben…?

Natürlich gibt es Situationen, in denen das unmöglich erscheint. Liebt einander bezieht sich ja zuerst auf Menschen, die miteinander in Beziehung stehen. In jeder engen Beziehung kommt irgendwann der Punkt, wo diese bedingungslose Liebe, die auch die schlimmste Tat noch verzeiht oder sich wenigstens darum bemüht, herausgefordert wird. Etwa wenn ein nahe stehender Mensch uns verraten oder im Stich gelassen hat, als wir ihn so sehr gebraucht hätten.

Einander zu lieben wie Jesus uns geliebt hat, setzt also den sehr schmerzhaften Prozess der bedingungslosen Vergebung voraus. Natürlich werden wir, auch wenn wir ein heiligmäßiges Leben führen, wohl selten immer hundertprozentig zu bedingungsloser Liebe und Vergebung fähig sein, beispielsweise weil eine geliebter Mensch uns bis in die tiefsten Tiefen unseres Seins verletzt hat… Und es wird immer auch schwierige Situationen geben, in denen wir abwägen müssen, ob wir diesem Ideal wirklich folgen wollen.

Doch allein die Bemühungen, das neue Gebot leben zu wollen, wird unser Bewusstsein, unsere Gedanken, Worte und Taten mit der Zeit verändern. Wir werden immer mehr mit den Augen der Liebe sehen, so wie Jesus, und uns selbst, unseren Schwestern und Brüdern und Gott immer näher kommen.

Daran werden euch alle erkennen – zwei Beispiele
Die Psychotherapeutin Christel Lieben hörte bei Recherchen zu ihrem Buch „Im Antlitz des Bösen – Ich weinte die Tränen meiner Mörder“ von einem Pastor in Afrika, der mit Kindersoldaten arbeitete. Er verurteilte sie nicht wegen der vielen Morde und Gewalttaten, die sie begangen hatten, sondern sah ihre tiefste Sehnsucht nach Liebe und Vergebung. In einer mehrmonatigen Therapie öffneten sie sich für diese bedingungslose Liebe und Vergebung Gottes, die sie durch den Pastor erfahren konnten. Durch ihre eigene Heilung wurden sie wieder fähig zu lieben und zu vergeben, kehrten zu ihren Familien zurück und begannen ein neues Leben.

Auch gibt es viele Menschen, die den Mördern ihrer Liebsten vergeben haben, etwa die Holocaustüberlebende Alice Herz-Sommer. Sie war in innerem Frieden und wurde weit über 100 Jahre alt.

Nur die Liebe kann heilen – uns selbst und auch die anderen…!

Amen.

Dieser Beitrag wurde unter Predigten veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

13 − = 11

Du kannst folgende HTML-Tags benutzen: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>