Es ist vollbracht – Karfreitag 2021

Aus dem Evangelium nach Johannes, Kapitel 19
25 Bei dem Kreuz Jesu standen seine Mutter und die Schwester seiner Mutter, Maria, die Frau des Klopas, und Maria von Magdala.
26 Als Jesus die Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er liebte, sagte er zur Mutter: Frau, siehe, dein Sohn!
27 Dann sagte er zu dem Jünger: Siehe, deine Mutter! Und von jener Stunde an nahm sie der Jünger zu sich.
28 Danach, als Jesus wusste, dass nun alles vollbracht war, sagte er, damit sich die Schrift erfüllte: Mich dürstet.
29 Ein Gefäß voll Essig stand da. Sie steckten einen Schwamm mit Essig auf einen Ysopzweig und hielten ihn an seinen Mund.
30 Als Jesus von dem Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht! Und er neigte das Haupt und übergab den Geist.

Kreuz
Autorin:
Sigrid Haas, Diplomtheologin in Mannheim

 
Die Predigt:
Es ist vollbracht

Liebe Leserin, lieber Leser,
Schweigend unter dem Kreuz
Was mag Maria, die Mutter Jesu, wohl gefühlt haben, als sie ihrem erst 33jährigen Sohn hilflos bei seinem qualvollen, unschuldigen Tod am Kreuz zusehen musste…?

Wenn ein nahe stehender Mensch aus unserem Leben herausgerissen wird, scheint die Welt stillzustehen. Von einem Moment zum anderen ist nichts mehr, wie es war, und wird es auch niemals mehr sein. Diese Erfahrung müssen wir alle machen, je älter wir werden, desto häufiger. Uns bleibt erst einmal nur schweigen, weinen, Schmerz, Trauer und Wut zuzulassen, Halt suchen bei anderen und bei Gott.

Geliebte Menschen zu verlieren ist schrecklich und für die Hinterbliebenen die größte Herausforderung, besonders wenn es plötzlich geschieht, jemand noch jung war und noch viel vorhatte im Leben oder durch Gewalteinwirkung gestorben ist, auch wenn der Tod natürlich nicht das Ende ist. Aber wenn jemand alt oder schwerkrank war, ist es für alle auch eine Erlösung, trotz all des Schmerzes. Denn einen geliebten Menschen leiden zu sehen und nicht helfen zu können, ist nur sehr schwer zu ertragen.

Jesus bereute im Rückblick auf sein Leben nichts, sah trotz seines kurzen Lebens seine Lebensaufgabe als erfüllt an, konnte im Frieden sterben und sogar seinen Mördern verzeihen.

    Zum Nachdenken:
    Wenn Sie einen geliebten Mensch verloren haben, konnten Sie Schmerz, Trauer und auch Wut zulassen, jedoch ohne sich darin zu verlieren?

Mit der Geburt beginnt der Countdown zum Tod
Am Aschermittwoch haben wir gehört „Bedenke, Mensch, dass du Staub bist!“ Am Karfreitag nun hören wir Jesus sagen: Es ist vollbracht! Zwischen diesen beiden Polen entfaltet sich unser Leben – oder auch nicht…

Nämlich dann, wenn wir nicht das verheißene Leben in Fülle leben – nicht authentisch, lebendig und vertrauensvoll sind wie die Kinder…! Das Himmelreich ist in uns – in diesem Leben, jetzt, Tag für Tag, in jedem Moment, – wenn wir unseren Herzensweg gehen und verbunden sind mit uns selbst, anderen, Mutter Erde und der Quelle allen Sein. Dann macht es uns auch keine Angst, dass nach dem Moment unserer Geburt bereits unsere Lebensuhr unerbittlich Richtung Tod zu laufen beginnt…!

    Zum Nachdenken:
    Wenn Sie jetzt sterben müssten, könnten Sie auf ein erfülltes, aus dem Herzen heraus gelebtes Leben zurückblicken und in Frieden gehen oder müssten Sie bitter bereuen „Hätte ich doch nur…“?

Getrennt von den natürlichen Lebensrhythmen
Wir sind zwar kein Staub. Jedoch besteht unser Leib aus den Elementen der Erde und kehrt auch wieder dorthin zurück. Allerdings ist dies den meisten Menschen nicht – mehr – bewusst. So viele haben den Bezug zur Erde verloren, deshalb fürchten sie auch den Tod so sehr. Denn sie sind nicht mehr eingebunden in die Lebenszyklen von Geburt und Tod, in den ewigen Kreislauf des Werdens und Vergehens und in die Gemeinschaft aller Lebewesen.

Die Erde ist unsere Mutter, sie gebiert, nährt und trägt uns. Gleich einem winzigen Samenkorn, das den Bauplan eines ganzen Lebens in sich trägt, entsteht auch der kleine Mensch aus zwei winzigen Zellen, die alles enthalten. Sie begegnen und vereinigen sich, denn alles Leben ist Begegnung. Im Bauch unserer Mutter, der Stellvertreterin von Mutter Erde, entwickelt sich das kleine Wesen zu einem neuen Leben. Das Kind wächst – hoffentlich – heran im Kreise der Familie oder sogar einer (Dorf-)Gemeinschaft und entfaltet – hoffentlich – sein ganzes Potential.

    Zum Nachdenken:
    Sind Sie verbunden mit Mutter Erde, sehen Sie sich als einen Teil von ihr?

Krisenfest durch lebendige Gemeinschaft
Der Verlust geliebter Menschen ist sehr schmerzhaft. Doch mit jedem Tod öffnet sich gleichzeitig immer die Tür für etwas Neues, auch wenn wird das oft nicht oder erst viel später erkennen. Denn wir leben in einer dualen, polaren Welt. Im Kreislauf der Natur wachsen etwa nach einem Waldbrand wieder neue Bäume, die vorher nicht genug Licht hatten. Und beispielsweise hat das erwachsene Kind, welches die alten Eltern bis zum Tod gepflegt hat, dann wieder Zeit und Energie für sich selbst. Durch diese erweiterte Sichtweise können wir uns wieder einbinden in den natürlichen Kreislauf von Geburt und Tod, sowohl der Menschen als auch der Natur.

Bis unter das Kreuz haben Jesus nur noch sehr wenige Getreue begleitet: Seine Mutter Maria, ihre Schwester, Maria von Magdala, die Frau des Klopas und der einzige furchtlose Jünger, sein Lieblingsjünger Johannes. Jesus vereinte sie zu einer neuen Familie, damit sie füreinander da sind und leitete so ihren Blick wieder auf das Leben, weg vom Verlust zu einer neuen Gemeinschaft. Zu seiner Mutter sagte er deshalb Siehe, dein Sohn!, und zu Johannes Siehe, deine Mutter!

Krisenzeiten sind immer auch eine große Chance und fordern von uns eine klare Entscheidung. Im asiatischen Denken ist diese Dimension fest verwurzelt, das chinesische Wort für Krise besteht aus zwei Zeichen „Gefahr“ und „Chance“. Wir haben immer die Wahl, ob wir jenen folgen, die nur auf das Dunkle und Schwere schauen oder ob wir uns trotz allem auf das Licht ausrichten, welches nach jeder noch so tiefen Nacht immer wieder folgt.

Wenn wir einander in Trauer, Schmerz, Verlust und auch Wut mit offenem Herzen begegnen, unsere Gefühle und Ängste teilen, können wir gemeinsam das Schwere leichter (er)tragen. In den alten Kulturen gibt es bis heute entsprechende ganzheitliche Trauerrituale. Leider fehlen in der christlichen Tradition aufgrund der Leibfeindlichkeit die körperbetonten Elemente. Diese sind jedoch sehr wichtig. Denn wenn Gefühle nicht auch physisch ausgedrückt werden, bleiben sie im Körper stecken, stauen sich und führen letztlich zu Krankheiten. Archaisch anmutende Zeremonien, wo die Menschen sich etwa schütteln, stampfen oder schreien, haben also heilenden Charakter.

Glücklicherweise nehmen sowohl der Trend zu ganzheitlichen Ritualen als auch zu Wahlfamilien zu. Besonders in Form von Mehrgenerationenhäusern leben Menschen wieder in größerer Gemeinschaft zusammen, oft naturverbunden auf dem Land.

Studien über Hundertjährige haben gezeigt, dass das Eingebundensein, die Gemeinschaft mit Familie und Freundinnen und Freunden am wichtigsten ist für ein langes, gesundes Leben. Gemeinsam lachen, singen, tanzen, umarmen, Visionen entwickeln und umsetzen, aber auch miteinander schweigen, einander trösten, Ängste und Probleme teilen und füreinander da sein – das macht uns stark und hält uns lebendig und gesund.

    Zum Nachdenken:
    Haben Sie ein tragfähiges Netzwerk von Menschen, die für Sie da sind, wenn Sie sie brauchen?

Unser tägliches Sterben
Viele Menschen verdrängen den Gedanken, sterblich zu sein und haben Angst vor dem Tod. Deshalb tun sie alles, um möglichst lange zu leben. In einem Feld der Angst ist jedoch kein wahres Leben mehr möglich. Aber ist ein kurzes, erfülltes Leben vielleicht nicht besser als ein langes, aber unerfülltes…?

Da viele Menschen keine Anbindung mehr an die Natur haben, sind sie sich nicht mehr des täglichen Sterbeprozesses bewusst. Jede Sekunde sterben Millionen Zellen in unserem Körper ab, aber gleichzeitig werden auch Millionen neue gebildet. Im Laufe von sieben Jahren erneuern sich so alle Zellen unseres Körpers. Wir sind gleichsam ein neuer Mensch geworden…!

Dieser Prozess sollte allerdings auch in unserem Bewusstsein stattfinden, indem wir uns beispielsweise von begrenzenden Glaubenssätzen befreien. Mit jeder Entscheidung, die wir treffen und jede Tür, die wir öffnen oder schließen, entscheiden wir uns für das Leben – oder den Tod…! Unser physischer Tod ist nur das Ende dieses lebenslangen Sterbeprozesses. Ohnehin müssen wir ja ständig Abschied nehmen von Dingen, Tätigkeiten, Lebensphasen, Orten, Menschen etc. Versuchen wir also jeden Tag so zu leben, dass wir am Abend sagen können „Es war ein erfüllter Tag.“ Dann werden wir die Angst vor dem Tod und dem Gefühl, etwas verpasst zu haben, verlieren und bereit sein, jeden Tag zu sterben.

    Zum Nachdenken:
    Sind Sie bereit, täglich Abschied zu nehmen und alles loszulassen, sterben zu lassen, was Ihnen nicht – mehr – dient: Dinge, Menschen, Orte, Gewohnheiten, Tätigkeiten, Glaubenssätze, alte Verletzungen etc.?

Auch wenn letztendlich unser aller Leben in Gottes Hand liegt und wir unseren Todestag nicht kennen, so sind wir doch aufgerufen, jeden Moment das Leben zu wählen – trotz und gerade angesichts des Todes. Denn unser physischer Tod ist ja nicht das Ende, sondern der Beginn eines neuen, ewigen Lebens in einer anderen Dimension…!
Amen

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