Wahrheit ist nichts für Feiglinge – Aus einer Predigtreihe am 4. Fastensonntag zum 8. Gebot: „Du sollst kein falsches Zeugnis geben!“

Lesung aus dem Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Ephesus, Kapitel 4
Schwestern und Brüder,
22 Legt den alten Menschen des früheren Lebenswandels ab, der sich in den Begierden des Trugs zugrunde richtet,
23 und lasst euch erneuern durch den Geist in eurem Denken!
24 Zieht den neuen Menschen an, der nach dem Bild Gottes geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit!
25 Legt deshalb die Lüge ab und redet die Wahrheit, jeder mit seinem Nächsten; denn wir sind als Glieder miteinander verbunden.
26 Wenn ihr zürnt, sündigt nicht! Die Sonne soll über eurem Zorn nicht untergehen.
27 Gebt dem Teufel keinen Raum!
28 Der Dieb soll nicht mehr stehlen, vielmehr soll er sich abmühen und mit seinen Händen etwas verdienen, damit er den Notleidenden davon geben kann.
29 Über eure Lippen komme kein böses Wort, sondern nur ein gutes, das den, der es braucht, auferbaut, und denen, die es hören, Nutzen bringt.
30 Betrübt nicht den Heiligen Geist Gottes, den ihr als Siegel empfangen habt für den Tag der Erlösung.
31 Jede Art von Bitterkeit, Wut und Zorn und Geschrei und Lästerung mit allem Bösen verbannt aus eurer Mitte!
32 Seid gütig zueinander, seid barmherzig, vergebt einander, wie auch Gott euch in Christus vergeben hat

Aus dem Evangelium nach Johannes, Kapitel 8
In jener Zeit sprach Jesus zu den jüdischen Menschen:
26 Ich hätte noch viel über euch zu sagen und viel zu richten, aber er, der mich gesandt hat, ist wahrhaftig, und was ich von ihm gehört habe, das sage ich der Welt.
27 Sie verstanden nicht, dass er damit den Vater meinte.
28 Da sagte Jesus zu ihnen: Wenn ihr den Menschensohn erhöht habt, dann werdet ihr erkennen, dass Ich es bin. Ihr werdet erkennen, dass ich nichts von mir aus tue, sondern nur das sage, was mich der Vater gelehrt hat.
29 Und er, der mich gesandt hat, ist bei mir; er hat mich nicht allein gelassen, weil ich immer das tue, was ihm gefällt.
30 Als Jesus das sagte, kamen viele zum Glauben an ihn.
31 Da sagte er zu den Juden, die zum Glauben an ihn gekommen waren: Wenn ihr in meinem Wort bleibt, seid ihr wahrhaft meine Jünger.
32 Dann werdet ihr die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch befreien.

Autorin:
Karin_2016 (3)Karin Stump, Pastoralreferentin im Katholischen Forum Dortmund

 
Einleitung
Liebe Schwestern und Brüder,
wer von uns hätte nicht schon einmal ein klein wenig geschummelt, etwas geschönt oder ein Gerücht weitererzählt? Gegen den Schaden, den das im Kleinen und Großen anrichten kann, richtet sich das 8. Gebot „Du sollst kein falsches Zeugnis geben!“ Den Schaden nehmen nicht nur andere, sondern auch die eigene Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit. Welches Ausmaß falsches Zeugnis oder Lüge erhalten können, wurde am Beispiel des Diesel-Skandals im vergangenen Jahr deutlich. Die Autobranche hat Kunden und Öffentlichkeit jahrelang getäuscht und systematisch betrogen. Aufrichtigkeit, Verlässlichkeit, Vertrauen und verspieltes Vertrauen, das ist immer wieder Thema in unseren privaten Beziehungen, in der öffentlichen Debatte und in der Kirche. – Bitten wir Gott in der Stille um Klarheit, Neuanfang und Erbarmen.

Die Predigt
Liebe Schwestern und Brüder,
was echt und was falsch ist, bleibt stets eine spannende Frage. Viele Krimis und Filme von Verhandlungen vor Gericht leben davon. Was ist wahr? Wer verdreht die Wahrheit oder erzählt Halbwahrheiten? Viele Sprichworte ranken sich um Wahrheit und Lüge: „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht.“ „Lügen haben kurze Beine.“

Falschaussagen, Lügen, Verleumdung, Betrug gab und gibt es wohl immer unter Menschen, auch im alten Israel. Am Tor der Stadt wurde Recht gesprochen – ein falscher Zeuge konnte lebenslangen Verlust von Ehre und Besitz bedeuten. Das 8. Gebot: Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen (Ex 20,16) bleibt von höchster Aktualität.

Bei der emotionalen Debatte in den digitalen Medien ist eine Rückkehr zu einer sorgfältigen und achtsamen Sprache angezeigt. Desinformation, sog. „alternative Wahrheiten“ werden da gestreut und verbreiten sich in Sekunden. Je öfter man sie liest, desto leichter hält man sie für wahr. Ganze Lügengebäude, Ideologien etablieren sich so. Üble Nachrede, Mobbing, Rufmord wirken zerstörerisch und entziehen Menschen ihre Existenzgrundlage. So wird all dies zu einem „Strudel, in dem die Wahrheit erstickt.“ (Hoffmann)

Wenn Fälschungen in Seele und Erinnerung eingepflanzt werden, sind Wahres und Täuschung nicht mehr zu unterschieden. Wahrheit wird zusehends zum Spielball politischer Interessen im „postfaktischen“ Zeitalter. Eigeninteresse leitet die Sicht auf die Wirklichkeit.

Das 8. Gebot fordert Lauterkeit und Unbestechlichkeit. Ich deute es heute auch als Systemkritik an einer Wirtschaft, die hemmungslos nach eigenem Vorteil strebt und dabei vor Betrug und Korruption nicht Halt macht. Unterdrückerische Staaten und Institutionen schüren ein Klima der Angst, des Zudeckens und sorgen so für eine öffentliche Verlogenheit. Propaganda, Suggestion und Manipulation erschweren den Zugang zur Wahrheit. Leider wird auch Machtmissbrauch in der katholischen Kirche verdeckt und vertuscht. Eine unglaubwürdige Kirche raubt den Menschen ihren Glauben an Jesus Christus und seine gute Nachricht.

„Ehrlich währt am längsten,“ heißt ein weiteres Sprichwort. In der Öffentlichkeit muss um Wahrheit gerungen werden. Jede und jeder kann dazu beitragen und ist verantwortlich. „Die Fakten preiszugeben heißt, die Freiheit preiszugeben. Wenn nichts wahr ist, dann kann niemand die Macht kritisieren, denn es gibt keine Grundlage, von der aus man Kritik üben könnte. Wenn nichts wahr ist, dann ist alles Spektakel. Die dickste Geldbörse zahlt für die blendendsten Lichter,“ so schreibt der Autor Timothy Snyder.

Die neuen Technologien erlauben zudem eine Auflösung der Grenze zwischen Wahrheit und Lüge. Bilder werden bearbeitet, Geräusche unterlegt, Plagiate hergestellt und vieles andere mehr. Gleichzeitig erleben wir eine gewaltsame Bedrohung von Personen, die sich gegen diese Lügen auflehnen und die Wahrheit darstellen wollen. Jüngstes Beispiel: die Ausweisung von Journalisten aus der Türkei. Deshalb muss Wahrhaftigkeit geschützt und eingefordert werden als Grundlage menschlicher Kommunikation, Freiheit und Sicherheit. Keine Gemeinschaft hat Bestand, Menschenrechte gehen zugrunde, wenn Lüge das Vertrauen zerstört.

Gelegentlich gibt es Situationen, wo wir eine „Notlüge“ für angebracht halten können. Das kennt auch die Bibel. So erfinden die ägyptischen Hebammen Schifra und Pua eine Ausrede, um das Leben des Mose zu retten. Sie leisten Widerstand gegen den Befehl des Pharao, alle männlichen Babys nach der Geburt zu töten (Ex 1, 15-22). Offenbar sind Lügen dann in der Bibel „akzeptabel, wenn sie Ohnmächtigen zum Recht verhelfen oder dem hintergründigen Wirken Gottes dienen“ schreibt der Theologe Martin Rösel. Und weiter: Die Frage nach der Wahrheit wird „in den Dienst der Nächstenliebe gestellt und nicht in die Beliebigkeit des Eigeninteresses“. „Falsch ist ein Verhalten, das dem Nächsten schadet und die göttliche Gerechtigkeit verletzt.“ Wahrheit ist also mehr als eine „Eigenschaft von Sätzen“. Sie ist eine „moralische Aufgabe, den Schwachen, den Angeklagten und Unterdrückten zu helfen“(Hoffmann).

Jesus selbst sagt von sich im Johannesevangelium: Ich bin die Wahrheit (Joh 14,6). Er hat die Wahrheit gelebt, mit allen Konsequenzen. Sein wahres Zeugnis macht andere frei. Ähnlich haben es die biblischen Propheten getan. Auch heute braucht es Zivilcourage, um zur Wahrheit zu stehen. Etwa in der U-Bahn, wenn Unschuldige angegriffen werden. Wenn populistische Meinungen in den Raum gestellt werden. Wenn Gerüchte über andere verbreitet werden. Wahrheit ist nichts für Feiglinge. Was ich als Wahrheit behaupte, muss ich vor höchsten Instanzen verantworten können: Vor Gericht, vor dem Gewissen, vor Gott. Ein ehrlicher Mensch ist klar und aufrecht.

Manchmal täuschen wir uns selbst, wollen etwas nicht wahr haben. Dann fordert das 8. Gebot dazu auf, unsere Schattenseiten anzusehen und an einem unrealistischen Selbstbild zu arbeiten. Als Menschen brauchen wir Echo und Kritik, um zu wachsen. Hoffentlich dürfen wir die Wahrheit mit Feingefühl und Takt erfahren. Glaube an die Wahrheit! Bemühe dich um Wahrheit! Auch dazu motiviert uns das 8. Gebot. Noch einmal Timothy Snyder: „Frage nach und überprüfe. Ergründe Dinge selbst. Verbringe mehr Zeit mit langen Artikeln. Übernimm Verantwortung für das, was du mit anderen kommunizierst“.

Selbst wenn vieles vom Standpunkt abhängt, dürfen wir davon ausgehen, dass es eine Wahrheit gibt. Prinzipiell ist sie erkennbar und durch Gott garantiert. Jesus spricht im Johannesevangelium (8,26): Er, der mich gesandt hat, ist wahrhaftig. In der Wahrheit berühre ich Jesus Christus, berühre ich Gott. Trete ich die Wahrheit mit Füßen, verschleiere ich sie, so verdunkle ich auch das Wirken Gottes. Lügen, falsch aussagen ist Sünde, weil es von zu wenig Liebe und Achtung gegenüber anderen und Gott, der Wahrheit, zeugt.

Ich wünsche uns immer wieder Momente der Wahrheit, in denen wir andere und uns selbst ehrlich ansehen, dazu stehen und Gottes liebenden Blick erfahren. Amen.
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Frank Hoffmann, Der Tag der Wahrheit, S. 19, andere zeiten 1/2019; Martin Rösel, ebd. Timothy Snyder, Über Tyrannei, 20 Lektionen für den Widerstand, 2018

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