Gottes- und Menschenkind – In der heiligen Nacht

Aus dem Evangelium nach Lukas, Kapitel 2
1 In jenen Tagen erließ Kaiser Augustus den Befehl, alle Bewohner des Reiches in Steuerlisten einzutragen.
2 Dies geschah zum ersten Mal; damals war Quirinius Statthalter von Syrien.
3 Da ging jeder in seine Stadt, um sich eintragen zu lassen.
4 So zog auch Josef von der Stadt Nazaret in Galiläa hinauf nach Judäa in die Stadt Davids, die Betlehem heißt; denn er war aus dem Haus und Geschlecht Davids.
5 Er wollte sich eintragen lassen mit Maria, seiner Verlobten, die ein Kind erwartete.
6 Als sie dort waren, kam für Maria die Zeit ihrer Niederkunft,
7 und sie gebar ihren Sohn, den Erstgeborenen. Sie wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, weil in der Herberge kein Platz für sie war.
8 In jener Gegend lagerten Hirten auf freiem Feld und hielten Nachtwache bei ihrer Herde.
9 Da trat der Engel des Herrn zu ihnen und der Glanz des Herrn umstrahlte sie. Sie fürchteten sich sehr,
10 der Engel aber sagte zu ihnen: Fürchtet euch nicht, denn ich verkünde euch eine große Freude, die dem ganzen Volk zuteil werden soll:
11 Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Messias, der Herr.
12 Und das soll euch als Zeichen dienen: Ihr werdet ein Kind finden, das, in Windeln gewickelt, in einer Krippe liegt.
13 Und plötzlich war bei dem Engel ein großes himmlisches Heer, das Gott lobte und sprach:
14 Verherrlicht ist Gott in der Höhe /
und auf Erden ist Friede /
bei den Menschen seiner Gnade.

Autorin:
Birgit DroesserBirgit Droesser, Pastoralreferentin, war tätig in der Gemeindepastoral, in der Klinikseelsorge und im Theol. Mentorat Tübingen

 
Die Predigt:
Gottes- und Menschenkind

Liebe Leserin, lieber Leser,
natürlich erinnern Sie sich an die Geburt Ihres Kindes als wäre es gestern gewesen, wenn Sie das Glück hatten, Eltern zu werden. Für viele, vor allem für die Väter, ist es oft eine ganz besondere, auch spirituelle Erfahrung. Sollten Sie heute zusammen in der Christmette sein, dürfen Sie sich gerne sanft drücken und auch in den Arm nehmen und dem nachspüren, wie es damals war. Ein neugeborenes Kind ist ein Wunder; wie aus dem Nichts ist da ein vollkommenes Menschlein entstanden, auch wenn nicht jede Geburt glücklich ist, ein Kind mit einer Behinderung oder Krankheit zur Welt kommen kann oder in einen sozialen Problemkreis hinein. Eine Geburt ist ein ganz besonderer Augenblick.

Nicht anders erging es vermutlich Maria und Josef. Unter Schmerzen wurde dieses Kind geboren, ohne medizinische Versorgung, ohne Hygiene, in Schmutz und Armut – wie es auch heute wieder tausendfach in unserer Welt geschehen ist und morgen ebenso geschehen wird – , und doch ein wunderschönes vollkommenes Menschenkind, eines von Milliarden Menschenkindern. Doch d i e s e s Wunder ist noch so viel größer als alle anderen. Denn dieses Kind umgibt ein Geheimnis; es ist mit jeder Faser seines Seins Gott selbst. Jesus wird er genannt, d.h. Gott rettet und es wird 30 Jahre dauern, eine sehr lange Zeit, besonders für damalige Verhältnisse, bis dieser junge Mann sich selbst als den erfasst, der er von Anfang an war, Gottes einzigartiger Sohn, ganz anders noch einmal als wir alle Gottes Kinder sind.

Auf wiederum rätselhafte Weise wird sich dieser Jesus das Wort Menschensohn wie einen Titel zulegen. Jesus spricht oft von sich als dem Menschensohn, ein Begriff, der sonst in der Bibel kaum vorkommt, und über den die Theologen bis heute nur Vermutungen anstellen können, was Jesus damit wohl genau gemeint ist. Er legt sich das Wort Menschensohn wie ein understatement zu, wie eine bewusste Untertreibung. Niemals hat er den Titel „Gottessohn“ für sich in Anspruch genommen. Und dennoch… Das Geheimnis, das Menschen zu allen Zeiten beschäftigt hat und beschäftigen wird, ist der Zusammenklang von Gott und Mensch in diesem Kind. Unsere Weihnachtslieder singen vom Wunder und vom Geheimnis, das wir mit dem Verstand nicht erfassen und durchdringen können. Wir dürfen es dafür ein Leben lang umkreisen und können nichts anderes tun, als uns in jedem Lebensalter und in jeder Lebenslage auf jeweils eigene Weise diesem Geheimnis zu nähern.

Die Frauen und Männer, die Jesus begegnet sind, und mit ihm zwei bis drei Jahre gelebt haben, konnten die Einzigartigkeit von Jesus spüren. Die Evangelien erzählen davon. Er hatte eine ganz besondere Fähigkeit, sich in Menschen hineinzuversetzen, sie zu verstehen, Kranke zu heilen und wieder aufzurichten. Er lehrte wie einer, der Vollmacht hat. Er sprach von s e i n e m Vater im Himmel und verstand seinen Auftrag so, dass er aus jeder Form von Gefangenschaft befreien sollte und wollte. Alles an Jesus ist wahr und klar. Jesus war von einer Kraft durchdrungen, die man immer wieder nur als einzigartig bezeichnen kann. In ihm lebte, atmete und äußerte sich Gott selbst. Umso bestürzender ist für uns die zutiefst menschliche Verzweiflung, wenn wir uns an seine letzten Worte in Todesangst am Kreuz erinnern: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?

Das Kind, dessen Geburt wir heute Nacht feiern, war Gottes- und Menschensohn. Und aus diesem Zusammenklang der Gegensätze heraus, wie man sie sich nicht größer denken kann, konnte Jesus unser Retter und Heiland werden, der uns allein den Weg zu einem gelingenden Leben weist. An ihm ist nichts Falsches und Unwahres. Man kann auch auf sein Wort hören und sich danach richten, ohne den vollen Glauben: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, suche die Vergebung, hüte dich vor der Habsucht, wende keine Gewalt an. Das sind einige Kerngedanken Jesu, die unsere Welt trotz aller Riesenprobleme immer wieder in die richtige Spur bringen, wenn Menschen sich in ihrem Verhalten an ihnen orientieren.

Und wenn sich immer mehr Menschen mit Jesus verbünden und auf sein Wort hören, sich von seinem Geist anstecken lassen, dann kann diese Kraft unsere laute, grelle, umtriebige und brutale Welt in einen Ort verwandeln, wo nicht nur die einen, sondern alle gut leben können, weil wir uns gegenseitig nicht egal sind. Wer an Jesus glaubt und mit ihm oder nach seinem Vorbild leben will, kann niemals über das Elend seiner Mitmenschen hinwegsehen, als ginge es ihn oder sie nichts an.

Jesus: Gottes- und Menschenkind. Auch wir können die Erfahrung machen, wie Neues und Produktives entsteht, wenn wir nicht nur unter uns bleiben und stets Gleichgesinnte suchen, sondern bereit sind, auch Gegensätze und Verschiedenheit zuzulassen, wenn wir bereit sind, die Andersartigkeit des Anderen kennenzulernen und wertzuschätzen. Mit einfachen Worten sagt es Rolf Krenzer so:

    Wann fängt Weihnachten an?
    Wenn der Schwache
    dem Starken die Schwäche vergibt,
    wenn der Starke die Kräfte des Schwachen liebt,
    wenn der Habewas
    mit dem Habenichts teilt,
    wenn der Laute
    bei dem Stummen verweilt
    und begreift,
    was der Stumme ihm sagen will,
    wenn das Leise
    laut wird
    und das Laute
    still,
    wenn das Bedeutungsvolle
    bedeutungslos,
    und das scheinbar Unwichtige
    wichtig und groß,
    wenn mitten im Dunkel
    ein winziges Licht
    Geborgenheit,
    helles Leben verspricht,
    und du zögerst nicht,
    sondern du
    gehst
    so wie du bist
    darauf zu,
    dann
    ja, dann
    fängt Weihnachten an.

Heute dürfen wir feiern, dass Gott in einem Menschenkind unser Leben, und zwar das Leben eines armen Menschen, auf sich genommen hat. Gehen wir darauf zu, wie es im Gedicht hieß, dann wird uns dieses Kind in seinen Bann ziehen und nicht mehr loslassen. Amen

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Rolf Krenzer, Die schönsten Geschichten zur Advents- und Weihnachtszeit, Freiburg i.B., 1992

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