In jener Zeit sprach Jesus zu seinen Jüngerinnen und Jüngern:
1 Ich bin der wahre Weinstock und mein Vater ist der Winzer.
2 Jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt, schneidet er ab und jede Rebe, die Frucht bringt, reinigt er, damit sie mehr Frucht bringt.
3 Ihr seid schon rein durch das Wort, das ich zu euch gesagt habe.
4 Bleibt in mir, dann bleibe ich in euch. Wie die Rebe aus sich keine Frucht bringen kann, sondern nur, wenn sie am Weinstock bleibt, so könnt auch ihr keine Frucht bringen, wenn ihr nicht in mir bleibt.
5 Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und in wem ich bleibe, der bringt reiche Frucht; denn getrennt von mir könnt ihr nichts vollbringen.
6 Wer nicht in mir bleibt, wird wie die Rebe weggeworfen und er verdorrt. Man sammelt die Reben, wirft sie ins Feuer und sie verbrennen.
7 Wenn ihr in mir bleibt und wenn meine Worte in euch bleiben, dann bittet um alles, was ihr wollt: Ihr werdet es erhalten.
8 Mein Vater wird dadurch verherrlicht, dass ihr reiche Frucht bringt und meine Jüngerinnen und Jünger werdet.
Die Predigt:
„Getrennt von mir könnt ihr nichts vollbringen“
Liebe Leserin, lieber Leser,
kennen Sie den? – „Hinter jedem starken Mann steht eine starke Frau“! Wussten Sie schon, dass es diesen Satz jetzt sogar auch anders rum gibt? Kürzlich im Wartezimmer eines Arztes habe ich das entdeckt. Demnach sollen hinter starken Frauen ebenso starke Männer stehen. Ist die Emanzipation schon so weit fortgeschritten, dass auch Frauen alleine jetzt nichts mehr hinbekommen? „Selber groß“- trotzig und auch ein wenig gekränkt habe ich schnell weitergeblättert.
„Ohne mich, getrennt von mir könnt ihr nichts vollbringen„. Dieser kleine Nebensatz im 15. Kapitel des Johannesevangeliums, hat mich ähnlich aufhorchen lassen. Wie lässt sich das mit der freien Entscheidung verbinden, auf die Jesus doch sonst so großen Wert legt?
Jesus setzt sich mit dem Weinstock gleich. Er selbst ist es also, der seine Wurzeln tief in den Boden wachsen lässt, um an das lebenspendende Wasser und an die guten Nährstoffe im Boden zu gelangen. Er gibt der Pflanze Nahrung und Halt, die Triebe, die Blätter und die Reben können sich entfalten, können wachsen. Damit es keinen Wildwuchs gibt und die Reben guten Früchte hervorbringen können, dafür sorgt der Winzer. Jesus sagt, dass Gott selbst diese fürsorgliche Tätigkeit übernimmt. Er schneidet wilde Triebe ab, leitet die Zweige in die richtige Richtung, reinigt die Reben, damit sie genießbare Früchte tragen.
Wir Württemberger/innen wissen ja, dass ein Weinstock gehegt und gepflegt werden muss, sonst schießt die ganze Kraft ins Grün, wilde Triebe wachsen und wuchern, die Trauben werden immer kleiner und irgendwann so sauer, dass sie für unsere verwöhnten Gaumen ungenießbar sind. Ein Radikalschnitt kann da wahre Wunder vollbringen – der Weinstock selber ist ja Garant für die Güteklasse!
Übertragen wir dieses Bild auf unser Glaubensleben, dann ist das eine wirklich frohe Botschaft die uns da heute zugesagt wird: Gott Vater und Gott Sohn versorgen uns mit allem, was wir für unser Leben brauchen – Nahrung, Wasser, Halt, Pflege, Stütze, Schutz, Sonne und Wärme – all das soll helfen, dass wir Früchte tragen, an denen andere ihre Freude haben und aus denen schließlich neues Leben entstehen kann. Das ist ja letztlich der Sinn und Zweck einer Traube, entweder als Nachtisch verzehrt zu werden, oder als köstlicher Wein bei Festen zur Lebensfreude aller beizutragen.
Ein wirklich schönes Bild – sehr motivierend und werbend. Auch für unsere Gemeinden. Stellen Sie sich mal vor, alle leben aus der Kraft Jesu, sein Wort ist die Nahrung, die Sakramente geben den Menschen Halt, sie überlassen sich voll und ganz der Führung Gottes, lassen sich von ihm reinigen und in die richtige Richtung leiten. Da geht es nicht um Schnellwuchs, um Vergleich mit anderen Supergemeinden, da zählen auch nicht Leistung, Zahlen oder Statistiken. Ziel ist es lediglich, dass die Menschen füreinander fruchtbar und genießbar werden, Gott selbst trägt dafür Sorge! Mal muss er rigoros zurechtschneiden, mal muss er die jungen Triebe in die richtige Richtung biegen, mal muss er ältere Zweige sanft stützen, dass sie nicht abknicken und von Jesus getrennt werden. Und dann lässt Gott auch noch Sonne und Regen zur rechten Zeit über die Gemeinden kommen. Ereignisse, Menschen und Gottes heilige Geistkraft bewirken, dass alles nach seinem Willen geschieht.
„Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben, ohne mich könnt ihr nichts tun“, wenn wir dieses Wort von Jesus als Leitbild für uns gelten lassen, dann müssen wir schon zugeben, dass unsere Lebensweise dem nicht immer entspricht: Wir wollen lieber unabhängig sein, Schäfchensein und Stille-Halten ist out. Aktionen, Demos und Proteste sind angesagt. „Christus hat keine Hände, nur unsere Hände…. um den Elenden dieser Welt zu helfen!“ Das ist sicher Not-wendend und wichtig, doch wir müssen uns auch fragen lassen, ob wir bei all diesen Aktionen immer ganz bei Jesus sind? Es geht ja nicht nur darum, zu tun, was Jesus getan hat, um danach moralisch gut da zu stehen! Hier steht ganz klar: In Jesus bleiben – darauf kommt es an!
Was und wie viel bringt mir das? – ein weiterer Glaubenssatz, der das Leben unserer heutigen Gesellschaft in so vielen Bereichen bestimmt. Was interessiert mich das Elend der Anderen, wenn ich doch selbst Angst haben muss, keinen Ausbildungsplatz zu bekommen? Was soll ich mich noch um die Hungernden oder die Probleme der weiten Welt kümmern, wenn ich selbst nicht weiß, wie lang es noch für mich und die Meinen reicht? Die Zeiten sind hart und also muss auch ich hart sein. Leistung bringen. Nur der Erfolg zählt – ich bin mein eigener Superstar – und da kann ich keine Rücksicht nehmen auf Schwächere. Da kann ich mir keine Zeit nehmen für Verlierer, die es nicht bringen, Typen, die mich nicht weiter bringen. Ich muss mich durchsetzen, auch gegen die anderen. Ich muss einen starken Willen in einem starken Körper haben. Ich will möglichst effizient sein. Produktionswege müssen verschlankt werden. Arbeitsvorgänge müssen beschleunigt werden. Immer schneller muss ich mit immer weniger immer mehr erreichen.
Denkt auch noch jemand an die Angst, die hinter solchen starken Sprüchen steckt? Da ist der nagende Zweifel am eigenen Wert. Da ist die ständige Furcht nicht zu genügen. Da ist die Angst, alt zu werden, arm zu werden, arbeitslos zu werden: Und was dann…? Bin ich dann noch attraktiv, begehrenswert, liebenswert: überhaupt noch irgendetwas wert…? Dagegen muss ich etwas tun! Stark sein, schneller sein, Leistung bringen. Ich muss handeln! Was dabei stört, muss weg.
Wie anders ist doch dieses Bild vom Weinstock und den Reben: da bestimmt nur einer, was weg muss: Gott selbst! Auch wenn wir seinen Willen oft nicht verstehen, wir dürfen aber darauf vertrauen, dass er uns Gutes zuwachsen lässt. Besonders jetzt in der neuerwachten Natur können wir erleben, wie es überall sprießt und blüht. Diejenigen, die einen Garten haben, wissen allerdings, dass leider das Unkraut am schnellsten wächst. Anders dagegen ein Weinstock: Der braucht Hege und Pflege und braucht einige Jahre, bevor er Frucht trägt. Da nützt auch keine Überdüngung mit noch so tollen Konzepten. Unsere Zeit liegt tatsächlich in Gottes Händen.
Noch eine weitere Entlastung enthält das heutige Bildwort: Eine Rebe kann aus sich heraus nicht wachsen. Mit anderen zusammen wächst sie am Weinstock, von diesem erhält sie ihre Kraft. Nur so kann sie von innen her wachsen und reifen. Auch wir Christen sind nicht auf uns selbst zurückgeworfen, sondern Teil einer Gemeinschaft; auch wir wachsen und reifen von innen her. Wir wachsen an Christus und reifen in seiner Liebe. Bei Jesus „rumhängen“ – das allein genügt! Nicht die Leistung ist es, die uns ausmacht, sondern es ist die Liebe, die ich empfange und die ich weitergebe. Die Liebe ist es, die mich stark macht und wachsen lässt, sie fließt mir zu durch den Weinstock Jesus Christus. Ich habe es nicht nötig, etwas zu beweisen, mir nicht und andern auch nicht, ich brauche mich nicht stark zeigen und als liebenswert erweisen. Durch Jesus bin ich schon beliebt, durch Christus werde ich schon geliebt. Seine Liebe ist es, die mich hält und trägt. Das ist der Grund, warum ich still und vergnügt vor mich hin wachsen darf. Daraus wächst die Frucht der Liebe, für die ich Gott durch meine Freude und meinen Jubel von Herzen danken kann. Da brauche ich mich nicht mehr abstrampeln auf der Suche nach „Spaß“. Was kann mehr „bringen“ als die Freude darüber, angenommen zu sein, so wie ich bin? Was kann größer sein, als zu wissen, dass ich Anteil habe am ewigen Leben in Christus, dass er mich aus Liebe schon erlöst hat?
Und so ist der kleine Nebensatz: „Ohne mich könnt ihr nichts tun“ im Grunde genommen ein großes Heilsversprechen: Klar, können wir dies und das tun oder auch lassen, wir haben die Freiheit, gute oder schlechte Werke zu tun. Aber das, worauf es letztlich ankommt, das können wir nicht tun: nämlich uns selbst erlösen. Aber wir brauchen es auch nicht, denn es wurde ja schon gemacht. Christus hat es getan für uns. Und deshalb können wir positiv denken und positiv handeln. Wir stehen auf einem festen Grund und haben festen Halt an Christus, dem wahren Weinstock, er lässt uns nicht fallen.
Wenn Jesus Christus spricht: Bleibt in mir und ich in euch! dann will er uns voller Liebe umfangen und sagen: Werft euer Vertrauen nicht weg. Werft nicht weg, was ihr schon habt, und was ihr wo anders niemals finden werdet: euer Vertrauen, eure Freude und euren Frieden! Bleibt in meiner Liebe und lasst meine Liebe in euch wachsen, auf dass ihr viel Frucht bringt. Menschen, die Frucht bringen – neues Leben in sich bergen, neues Leben möglich machen, sich verzehren lassen, Menschen, die nicht nur laute Reden schwingen sondern dankbar und hilfsbereit das weiterschenken, was sie selbst empfangen haben – das braucht die Welt von heute mit ihren großen Problemen sehr dringend.
Jesus, Gott selbst ist es, der hinter uns steht. Seiner Kraft vertrauen bedeutet, fruchtbar und genießbar sein, vielleicht nur für diejenigen, die in meiner kleinen Umgebung nach einem lieben Wort hungern, vielleicht aber auch für diejenigen, die von weit her gekommen sind, auf der Suche nach neuen Lebensmöglichkeiten, die nach Frieden und Zuwendung dürsten. Gott selbst hilft dabei, dass seine Liebe in uns und durch uns wachsen kann.
AMEN