In jener Zeit erhob Jesus seine Augen zum Himmel und betete: Heiliger Vater,
20 ich bitte nicht nur für diese hier, sondern auch für alle, die durch ihr Wort an mich glauben.
21 Alle sollen eins sein: Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast.
22 Und ich habe ihnen die Herrlichkeit gegeben, die du mir gegeben hast; denn sie sollen eins sein, wie wir eins sind,
23 ich in ihnen und du in mir. So sollen sie vollendet sein in der Einheit, damit die Welt erkennt, dass du mich gesandt hast und die Meinen ebenso geliebt hast wie mich.
24 Vater, ich will, dass alle, die du mir gegeben hast, dort bei mir sind, wo ich bin. Sie sollen meine Herrlichkeit sehen, die du mir gegeben hast, weil du mich schon geliebt hast vor der Erschaffung der Welt.
25 Gerechter Vater, die Welt hat dich nicht erkannt, ich aber habe dich erkannt und sie haben erkannt, dass du mich gesandt hast.
26 Ich habe ihnen deinen Namen bekannt gemacht und werde ihn bekannt machen, damit die Liebe, mit der du mich geliebt hast, in ihnen ist und damit ich in ihnen bin.
Autorin:
Birgit Droesser, Pastoralreferentin, war tätig in der Gemeindepastoral, in der Klinikseelsorge und im Theol. Mentorat Tübingen
Die Predigt:
Der Einheit entgegen wachsen
Liebe Leserin, lieber Leser,
letzten Sonntag in Hamburg, Erzbischof Werner Thissen von Hamburg und Katrin Göring – Eckardt, Vorsitzende der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland, nebeneinander in der ersten Reihe beim Abschlussgottesdienst des Evangelischen Kirchentages, das war ein schönes Bild, nicht mehr, aber auch nicht weniger! Es fiel mir gleich zur Bitte Jesu ein, alle Christinnen und Christen mögen eins sein.
Mit der Frage nach dem Willen Gottes für unser Leben sind wir vertraut. In einem Gebet, das Jesus am Ende seines irdischen Lebens an den himmlischen Vater richtet, erfahren wir heute überraschend etwas vom Willen Jesu, was er sich wünscht, dass es über seinen Tod hinaus bleiben möge, worin er den Sinn seines irdischen Lebens sieht:
Die Welt soll glauben und erkennen, dass er vom himmlischen Vater gesandt ist. Alle sollen den Blick auf Gott übernehmen, den er uns eröffnet hat: unerschöpfliche Liebe und Barmherzigkeit, nicht Strafe und Rache, Heimsuchung und Vergeltung. Und der Weg dahin ist das Einssein der Christinnen und Christen. Alle sollen eins sein: „Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein, damit die Welt (wörtlich: der Kosmos) glaubt, dass du mich gesandt hast.“
Einheit, Einssein, das ist die Sehnsucht aller Liebenden. Und doch wird es schwierig, wenn man darüber nachdenkt, was damit gemeint sein kann. Sind wir Menschen nicht im Gegenteil von unserem Wesen her auf Verschiedenheit angelegt? Mit der Geburt endet das Einssein von Mutter und Kind. 40 Wochen lang konnte das werdende Kind nur in der Symbiose mit seiner Mutter überleben; jetzt aber wird es in die Welt hinausgestoßen und sich mehr und mehr zu einem Individuum entwickeln mit einmaligen Erfahrungen, Gefühlen und Gedanken, seiner einmaligen Art die Welt zu sehen und seiner ganz besonderen Weise zu glauben. Wenn wir uns zum Gottesdienst versammeln, beten und singen, der Predigt zuhören und das heilige Mahl feiern, dann hat es den Anschein, als täten wir alle dasselbe. Aber in Wirklichkeit gehen uns doch die unterschiedlichsten Gedanken und Empfindungen durch den Kopf. Es wäre sehr spannend zu wissen, welche Vorstellung jede und jeder von uns mit dem verbindet, was wir gemeinsam bekennen, oder welche Zweifel uns beschäftigen, welche Anliegen die einzelnen bewegen. Leider gibt es da, wo ich lebe, nur ganz selten Gelegenheit, sich über solche Fragen auszutauschen, am ehesten noch im Einzelgespräch nach dem Gottesdienst.
Jede und jeder ist ein Individuum. Und wir leben in einer Zeit, die diese Sicht sehr stark betont. Meistens werden im kirchlichen Raum die negativen Folgen hervorgehoben, z.B. dass für viele nur der eigene Vorteil eine Rolle spielt und der Zusammenhalt in den Familien wie auch die Traditionen schwinden. Trotzdem müssen wir uns klar machen, dass Freiheit und Individualität eng zusammenhängen. Wenn wir eine Gesellschaft mit freien Entfaltungsmöglichkeiten für alle wollen, dann ist es Sache jeder und jedes Einzelnen, wie sie ihr Leben gestalten. Statt Reglementierung und Vorschriften gibt es nur noch Vorbilder, die darum werben müssen, eingesehen, akzeptiert und vielleicht übernommen zu werden. Das haben wir doch aus der Geschichte gelernt: Menschen verhalten sich nur dann einheitlich, wenn sie unter Druck stehen, wie es in totalitären Systemen der Fall ist. Und auch da ist die Einheitlichkeit oft nur Fassade; in Wirklichkeit denken die einzelnen ganz anders und unterschiedlich.
Wo der Geist der Freiheit weht, da entfalten sich Verschiedenheit und Vielfalt, der Reichtum individueller Begabungen. So gesehen kann es nicht verwundern, dass sich die Christenheit in ihrer langen Geschichte in einer Vielzahl von kirchlichen Gemeinschaften ausgestaltet hat. Jede setzt andere Akzente. Während wir katholische Christen die heilige Handlung der Liturgie und die Sakramente betonen, rufen uns evangelische Christen das Hören auf das Wort Gottes in Erinnerung. Ich vereinfache jetzt natürlich, aber ich möchte darauf hinweisen, dass wir zusammen reicher sind und der Wahrheit Gottes näher, als wir es nur für uns alleine wären. Wir haben es auch in dieser Beziehung doch wirklich gut. Im Namen des „richtigen“ Bekenntnisses wurden in früheren Jahrhunderten blutige Kriege geführt. Viel weniger lange ist es her, genauer gesagt bis in die Zeit vor dem II. Vatikanischen Konzil, als es ein Problem, für manche sogar eine Katastrophe war, wenn ein Mädchen oder ein junger Mann mit anderem Gesangbuch in die Familie einheiraten wollte. Die Kirchen selbst haben versucht, sogenannte Mischehen möglichst zu verhindern.
Wer am kirchlichen Leben teilnimmt, vielleicht sich sogar engagiert, der weiß, wie viel sich seither aufeinander zu bewegt hat. In Deutschland sind uns Katholiken die evangelischen und evangelisch – methodistischen Christen am nächsten. In der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen, kurz ACK, sind es sogar 21 christliche Kirchen und kirchliche Gemeinschaften, die im Austausch miteinander stehen.
Wenn Jesus zum himmlischen Vater für uns betet, wir Christen weltweit mögen eins sein, dann ist damit sicher kein äußerer Zusammenschluss aller Kirchen und Gemeinschaften zu einer Großkirche gemeint. Es geht offenkundig um etwas anderes. Alle sollen „eins sein, wie wir eins sind, ich in ihnen und du in mir“, wird Jesus im Johannesevangelium zitiert. So verschieden wir Menschen auch sind, so unterschiedlich wir glauben, Jesus hat uns Freundinnen und Freunde genannt. Er lädt uns alle zu einer innigen Freundschaft mit sich und dem Vater ein. Das heißt doch nicht weniger, als dass wir Hand in Hand mit ihm unser Leben bestehen könnten, wenn wir in enger Beziehung zu ihm leben. Wir alle kennen seine Stimme, die Stimme des guten Hirten. Wir dürfen wie Reben am Weinstock mit ihm verbunden sein. Er ist für uns Licht, das alle Dunkelheiten erhellt. Er ebnet uns den Weg, er ist für uns Brot des Lebens und lebendiges Wasser. Er ist die Tür, die sich bis zum letzten Atemzug immer wieder aufs Neue uns öffnen wird. Mit diesen Bildworten betont Jesus im Johannesevangelium, wie er von sich aus mit allen eins sein will, die zu ihm gefunden haben.
Mit anderen eins zu sein, mit Jesus eins zu sein, ist ein Ziel, das vor uns liegt und unsere menschlichen Möglichkeiten eigentlich übersteigt. Wir können dem nur in der Freundschaft mit Jesus entgegenwachsen. Je mehr wir im Umgang mit Jesus gestärkt werden, umso unbefangener können wir dann auch auf unsere Glaubensschwestern und – brüder zugehen und sie in ihrem Anderssein, in ihrer Art, Gott zu suchen, kennen und akzeptieren lernen, und sicher auch von ihnen das eine und andere lernen. In einer Rundfunksendung zum Evangelischen Kirchentag hat der evangelische Theologe Friedrich Schorlemmer sein großes Erstaunen und seine Freude über die Wahl von Papst Franziskus zum Ausdruck gebracht, z. B. darüber, dass er sich als Bischof von Rom bezeichnet hat und dass er am Gründonnerstag eine echte Fußwaschung an Strafgefangenen vorgenommen hat, statt einer „nur“ symbolischen in der Liturgie. Das sind für Schorlemmer Zeichen, die Hoffnung auf Verlebendigung auch im Zusammenspiel der Konfessionen machen.
Und genau diesen Auftrag legt uns Jesus ans Herz. Wir dürfen uns nicht damit abfinden, dass unsere Gemeinden und Kirchen immer mehr schrumpfen. Wir alle, jede Christin, jeder Christ, sind gerufen, gemeinsam dafür zu werben, dass Gottes Herrlichkeit auch in der modernen Gesellschaft erkannt werden kann. Fangen wir doch als Christen, die noch in einer Gemeinde leben, bei uns selber an: Wir könnten heute vielleicht die Anregung mitnehmen, mit den Verantwortlichen in der Gemeinde zu überlegen, wie sich eine Kultur entwickeln lässt, Menschen anderer Konfessionen in unseren Gemeinden und Gottesdiensten willkommen zu heißen. Ich denke dabei besonders an Anlässe wie Erstkommunion und Firmung, Taufen, Hochzeiten und Begräbnisfeiern. Ein befreundeter Pfarrer zum Beispiel leitet das Vaterunser oft mit den Worten ein: „Wir beten in ökumenischer Verbundenheit“. So einfach könnte es sein, dem anderen zu zeigen: „Schön, dass du da bist.“ Wie man daran sieht, geht es gar nicht um große Taten, es geht nur darum, daran zu denken, um eine Veränderung unseres Bewusstseins, so wie Jesus es von uns will. Amen
Vielen Dank für diese Predigt. „Wo der Geist der Freiheit weht, da entfalten sich Verschiedenheit und Vielfalt, der Reichtum individueller Begabungen. “ Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Was wir der Freiheit alles verdanken! und dass die Einheit , dort wo die Freiheit gelebt wird, nur in der Akzeptanz der Vielfalt bestand hat. Wie arm würde die christliche Religion, wenn all ihre verschiedenen Ausprägungen auf eine einzige reduziert würde? Das wäre ganz gewiss nicht im Sinne Jesu. Seine Einheit ist sehr weit, ganz offen. Ich denke da immer an die Stelle bei Mk (9,38-41), wo sich die Jünger empören, dass einer im Namen Jesu Dämonen austreibt, obwohl er sich nicht ihnen angeschlossen hat. Jesus antwortet gelassen: Wer nicht gegen uns ist, der ist für uns.