Eine angesehene Frau – 13. Sonntag im Jahreskreis B

Aus dem Evangelium nach Markus, Kapitel 5
21 Jesus fuhr im Boot wieder ans andere Ufer des Sees von Galiläa hinüber und eine große Menschenmenge versammelte sich um ihn. Während er noch am See war,
22 kam ein Synagogenvorsteher namens Jaïrus zu ihm. Als er Jesus sah, fiel er ihm zu Füßen
23 und flehte ihn um Hilfe an; er sagte: Meine Tochter liegt im Sterben. Komm und leg ihr die Hände auf, damit sie wieder gesund wird und am Leben bleibt.
24 Da ging Jesus mit ihm. Viele Menschen folgten ihm und drängten sich um ihn.
25 Darunter war eine Frau, die schon zwölf Jahre an Blutungen litt.
26 Sie war von vielen Ärzten behandelt worden und hatte dabei sehr zu leiden; ihr ganzes Vermögen hatte sie ausgegeben, aber es hatte ihr nichts genutzt, sondern ihr Zustand war immer schlimmer geworden.
27 Sie hatte von Jesus gehört. Nun drängte sie sich in der Menge von hinten an ihn heran und berührte sein Gewand.
28 Denn sie sagte sich: Wenn ich auch nur sein Gewand berühre, werde ich geheilt.
29 Sofort hörte die Blutung auf und sie spürte deutlich, dass sie von ihrem Leiden geheilt war.
30 Im selben Augenblick fühlte Jesus, dass eine Kraft von ihm ausströmte, und er wandte sich in dem Gedränge um und fragte: Wer hat mein Gewand berührt?
31 Seine Jünger sagten zu ihm: Du siehst doch, wie sich die Leute um dich drängen, und da fragst du: Wer hat mich berührt?
32 Er blickte umher, um zu sehen, wer es getan hatte.
33 Da kam die Frau, zitternd vor Furcht, weil sie wusste, was mit ihr geschehen war; sie fiel vor ihm nieder und sagte ihm die ganze Wahrheit.
34 Er aber sagte zu ihr: Meine Tochter, dein Glaube hat dir geholfen. Geh in Frieden! Du sollst von deinem Leiden geheilt sein.
35 Während Jesus noch redete, kamen Leute, die zum Haus des Synagogenvorstehers gehörten, und sagten (zu Jaïrus): Deine Tochter ist gestorben. Warum bemühst du den Meister noch länger?
36 Jesus, der diese Worte gehört hatte, sagte zu dem Synagogenvorsteher: Sei ohne Furcht; glaube nur!
37 Und er ließ keinen mitkommen außer Petrus, Jakobus und Johannes, den Bruder des Jakobus.
38 Sie gingen zum Haus des Synagogenvorstehers. Als Jesus den Lärm bemerkte und hörte, wie die Leute laut weinten und jammerten,
39 trat er ein und sagte zu ihnen: Warum schreit und weint ihr? Das Kind ist nicht gestorben, es schläft nur.
40 Da lachten sie ihn aus. Er aber schickte alle hinaus und nahm außer seinen Begleitern nur die Eltern mit in den Raum, in dem das Kind lag.
41 Er fasste das Kind an der Hand und sagte zu ihm: Talita kum!, das heißt übersetzt: Mädchen, ich sage dir, steh auf!
42 Sofort stand das Mädchen auf und ging umher. Es war zwölf Jahre alt. Die Leute gerieten außer sich vor Entsetzen.
43 Doch er schärfte ihnen ein, niemand dürfe etwas davon erfahren; dann sagte er, man solle dem Mädchen etwas zu essen geben.

Autorin:
4f42d070Gabriele Thönessen, Gemeindereferentin im Pfarrverband Selfkant mit Schwerpunkt in der spirituellen Erwachsenenbildung, Bistum Aachen

 
Die Predigt:
Eine angesehene Frau

Liebe Leserin, lieber Leser,
als mein Sohn noch den Kindergarten besuchte, wurde die Einrichtung einmal für einige Tage wegen Kopfläusen geschlossen. Noch während die Erzieherin mich telefonisch informierte, befiel mich ein Ekelgefühl und ich hatte den unwiderstehlichen Drang, mich am Kopf zu kratzen. Dabei schoss mir durch den Kopf, dass ich die betroffenen Familien lieber meiden sollte.

Während heute so ein Läusebefall kein Drama ist, gab es damals in Israel Krankheiten, die dazu führten, dass man dauerhaft gemieden wurde, obwohl keine Ansteckungsgefahr bestand. Wenn eine Frau an Blutungen litt, auch während der Menstruation, galt sie, solange der Blutfluss anhielt, als unrein. Menschen, die sie berührten wurden unrein. Alle Gegenstände, mit denen sie in Berührung kam, wurden ebenfalls unrein.

Der Frau aus dem Markusevangelium ergeht es daher sehr schlecht. Es ist schon schlimm genug, dass sie seit Jahren krank ist. Weil sie als unrein gilt, darf sie sich nirgendwo mehr sehen lassen. Jeder, der einmal krank war, weiß, wie wohltuend es ist, dann in den Arm genommen und umsorgt zu werden, oder Besuch zu bekommen, der tröstet und Anteil nimmt. All das ist der Frau in unserem Text versagt, über viele Jahre. Sie darf nicht einmal mit ihrer eigenen Familie zusammenleben, weil sie sie dauerhaft unrein macht. Dazu gilt Krankheit damals als Strafe Gottes für schwere Verfehlungen. Mit welchen Augen mögen die Menschen diese Frau gesehen haben? Und wie lebt man ausgestoßen aus der Gemeinschaft, behaftet mit Scham, Schande und Schuldgefühlen?

Wer wagt, gewinnt!
Woher nimmt die Frau nach 12 Jahren den Mut, ihr Schicksal in die Hand zu nehmen? Sie begibt sich unter die Leute und berührt heimlich Jesu Gewand. Beides ist ihr strengstens untersagt. Doch diese Geste enthält die ganze Hoffnung der Frau. Wie groß muss die Not der Frau sein. Wie groß muss aber auch ihr Glaube sein, trotz allem an eine Heilung zu glauben. Allerdings meint sie, sich die Heilung stehlen zu müssen. Trotzdem geschieht das sehnlichst Erhoffte. Sie spürt, dass sie geheilt ist. Damit könnte die Geschichte zu Ende sein.

Doch Jesus bleibt stehen, obwohl er zu einem sterbenden Mädchen unterwegs ist. Dabei ist doch augenscheinlich nicht viel geschehen: Jemand hat sein Gewand berührt. Da Jesus beharrlich nachfragt, ist die Frau gezwungen, sich zu offenbaren.

Warum diese Beharrlichkeit?
Was wäre gewesen, hätte Jesus Stillschweigen bewahrt. Wie hätte die Frau ihre Heilung der Familie, ehemaligen Nachbarn und Bekannten erklären können? Was hätte sie den Priestern gesagt, die sie für rein erklären mussten, bevor sie wieder in die Gemeinschaft aufgenommen werden konnte? Die Wahrheit hätte sie in große Schwierigkeiten gebracht, sie wäre öffentlich gebrandmarkt gewesen. Dagegen hätte eine Lüge sie dauerhaft belastet. Ich glaube, sie hätte nicht viel Freude an ihrer körperlichen Heilung gehabt. Sie hätte sich selbst immer wieder vorhalten müssen, dass sie sich ihre Heilung „gestohlen“ habe.

Jesus reicht es deshalb nicht zu wissen, dass er jemanden geheilt hat. Er möchte diesem „Jemand“ begegnen. Jesus kommt einer uralten Sehnsucht des Menschen entgegen: angenommen zu werden, mit allen Ängsten, Schwächen und Schuldgefühlen.

Geben ist seliger als Nehmen
Da die Frau sich „outet“, wird Begegnung möglich und sie erhält die Gewissheit, dass sie sich ihre Genesung nicht unrechtmäßig „erschlichen“ hat. Sie ist befreit von dem Empfinden, eine Sünderin zu sein, unrein zu sein. Erst durch eine solche Begegnung kann eine vollständige Heilung geschehen.

Warum dann nicht „unter vier Augen“?
Während Jesus bei der anschließenden Totenerweckung die Öffentlichkeit bewusst ausschließt, ist es hier wichtig, dass die Menge mitbekommt, was geschieht. Durch Jesus bekommt die Frau Ansehen und zwar vor den Augen derer, die sie aus den Augen verloren haben. Damit rührt Jesus an die tief liegende Verwundung der Frau, ausgestoßen aus der Gemeinschaft zu sein. Jesus berührt die Frau, wo es weh tut, im „Gesehen werden“, aber er reagiert anders als die anderen, so kann diese Wunde heilen.

Mir gibt diese Geschichte von der blutflüssigen Frau Mut, Trost und Hoffnung. Auch bei alten seelischen Wunden ist noch Heilung möglich, dort, wo ich Menschen begegne, die mich mit Jesu Blick ansehen und so annehmen, wie ich bin. Es kommt wesentlich darauf an, dafür offen zu bleiben, dies glauben zu können. Dann kann ich vielleicht in den Augen meines Mitmenschen Jesu Blick erkennen, wie es folgendes Gedicht ausdrückt:

licht – blick

und plötzlich
erkannte ich Sein lächeln
in deinen augen

es schien mir
mitten ins gesicht

da blühte
leben zwischen
dir
und mir,
schwester.

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2 Antworten auf Eine angesehene Frau – 13. Sonntag im Jahreskreis B

  1. W sagt:

    Geh in Frieden! Du sollst von deinem Leiden geheilt sein.
    Ich habe dieses Evangelium schon oft gelesen und auch ausgelegt. Aber eine für mich einleuchtende Lösung zu diesen beiden Sätzen habe ich bisher nicht gefunden. Sie wusste doch bereit, dass sie geheilt war oder glaubte es zu wissen. Warum dann noch diese Zusicherung Jesu! Deine Auslegung leuchtet ein! Danke!

  2. Birgit sagt:

    Hallo Gabi,
    am Wochenende habe ich auch diese Evangelium ausgelegt.
    Auch meine Ansprache hatte die Richtung, dass Jesus sich der Frau aktiv zuwendet und sie so aus der Einsamkeit holt.
    Aber die Formulierung, dass er aus ihr eine „angesehene Frau“ macht, finde ich einfach toll; das tifft den Nagel auf den Kopf.
    Ich finde die Idee zu dieser Seite übrigens super.
    DANKE

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