Den Weg des Herzens wählen – 30. Sonntag im Jahreskreis B

Aus dem Evangelium nach Markus, Kapitel 10
In jener Zeit,
46b als Jesus mit seinen Jüngern, – Jüngerinnen – und einer großen Menschenmenge Jericho verließ, saß am Weg ein blinder Bettler, Bartimäus, der Sohn des Timäus.
47 Sobald er hörte, dass es Jesus von Nazaret war, rief er laut: Sohn Davids, Jesus, hab Erbarmen mit mir!
48 Viele befahlen ihm zu schweigen. Er aber schrie noch viel lauter: Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir!
49 Jesus blieb stehen und sagte: Ruft ihn her! Sie riefen den Blinden und sagten zu ihm: Hab nur Mut, steh auf, er ruft dich.
50 Da warf er seinen Mantel weg, sprang auf und lief auf Jesus zu.
51 Und Jesus fragte ihn: Was willst du, dass ich dir tue? Der Blinde antwortete: Rabbuni, ich möchte wieder sehen können.
52 Da sagte Jesus zu ihm: Geh! Dein Glaube hat dich gerettet. Im gleichen Augenblick konnte er sehen und er folgte Jesus auf seinem Weg nach.

Skulptur blinde Frau
Autorin:
Sigrid Haas, Diplomtheologin in Mannheim

 
Die Predigt:
Den Weg des Herzens wählen

Liebe Leserin, lieber Leser,
wir wissen nichts über das Leben dieses blinden Bettlers, nur dass er Bartimäus hieß und sein Vater Timäus. Sicher lebte er jedoch am Rande der Gesellschaft, hatte niemanden, der für ihn da war und ihn liebte. Vielleicht lebte er früher mit seinen Eltern zusammen, die inzwischen gestorben waren, vielleicht wurde er verstoßen, als er erblindete, möglicherweise war er aber schon von Geburt an blind. Wir wissen auch nicht, ob er in die Synagoge ging, ein guter oder schlechter Mensch war. All das ist nicht wichtig, denn Jesus ist für alle Menschen gekommen, unabhängig davon, wie sie bisher gelebt haben. Wichtig ist nur, was sie jetzt tun – im Moment der Begegnung mit Jesus.

Wahrscheinlich fristete Bartimäus seit Jahren oder gar Jahrzehnten ein ärmliches, trostloses, einsames Dasein in Dunkelheit und abhängig von der Unterstützung fremder Menschen. Er konnte seine Träume nicht verwirklichen und wünschte sich bestimmt nichts sehnlicher, als wieder sehen zu können. Wie oft wird er inbrünstig vergeblich um Heilung gebetet haben, Tag für Tag, Jahr um Jahr. Wie kommt es aber jetzt dazu, dass er plötzlich, von einer auf die andere Minute, geheilt wird? Was sind die Voraussetzungen, die seine Heilung ermöglicht haben?

Entschlossenheit
Bartimäus hat von Jesus gehört, dass er Menschen heilt, und denkt: Vielleicht begegne ich ihm und werde auch endlich wieder gesund? Tatsächlich – Jesus kreuzt seinen Weg! Er erwacht aus seiner Lethargie, wird herausgerissen aus seinem eintönigen Leben. Nur wenige Sekunden bleiben ihm – es ist die allerletzte Chance seines Lebens, die er noch hat, alles kann sich verändern durch diese eine Begegnung! Dessen ist er sich voll bewusst. Deshalb überlegt er auch nicht, zögert keinen Augenblick, denkt nicht an die Folgen und ergreift diese einzigartige Möglichkeit, wild entschlossen, von Jesus wahrgenommen zu werden.

Bekenntnis
Mit lauter Stimme ruft er nach Jesus: Sohn Davids, Jesus. Er bekennt seinen Glauben an ihn, zeigt, dass er weiß, wer Jesus ist und was die Verheißung über ihn sagt. Es ist ihm völlig egal, was die anderen Leute über ihn denken – ob sie ihn für einen Egoisten halten oder unwürdig, mit dem Sohn Gottes zu reden. Er will unbedingt diese Begegnung mit Jesus. Er will endlich befreit werden von all den Begrenzungen und Abhängigkeiten. Er will endlich geheilt werden von all den Leiden und Demütigungen. Er will endlich seinen Traum leben und nicht Tag für Tag immer nur davon träumen. Denn er liebt nicht nur Gott, sondern auch sich selbst, und er möchte endlich glücklich sein.

Bitte
Dann ruft er weiter: Hab Erbarmen mit mir. Er bittet Jesus, dass er liebevoll und gütig auf ihn schaut, obwohl er weiß, dass er nichts zu bieten hat außer seinem tiefen Glauben und seiner großen Liebe. Doch er fühlt, dass Gott ihm diese Begegnung mit Jesus schenkt, weil er ihm ein neues Leben ermöglichen möchte. Er weiß zu hundert Prozent, was er will: Wieder sehen können – mit jeder Faser seines Körpers, seiner Seele und seines Herzens hat er diesen Wunsch und sehnt sich nach seiner Erfüllung. Aber er muss in diesem Augenblick ohne zu zögern mutig und entschlossen handeln und auch das Risiko eingehen, zurückgewiesen zu werden und zu scheitern.

Beharrlichkeit
Jesus reagiert erst einmal nicht auf sein Rufen, vielleicht prüft er, ob er es wirklich ernst meint. Doch Bartimäus ist hartnäckig, er will endlich heraus aus seinem schrecklichen Gefängnis, nimmt keine Rücksicht auf irgend jemanden, ist taub für die Worte der Leute, die Zweifel wecken und ihn davon abbringen wollen. Obwohl die Menge ihn ärgerlich zurechtweist, ignoriert er es und schreit verzweifelt um so lauter ein zweites Mal. Denn er weiß, das ist die einzige Chance seines Lebens! Wenn er es jetzt nicht schafft, sein Leben zu verändern, wird er seine restlichen Jahre weiter in Einsamkeit, Traurigkeit, Dunkelheit, Abhängigkeit und Elend verbringen müssen. Er ist bereit für einen neuen Weg, auch wenn er keine Ahnung hat, wohin er führen wird. Weder durch die Reaktion der Leute lässt er sich beirren noch durch irgendeine Art von Zweifel. Er denkt nicht nach, sondern tut nur das, was sein Herz sagt. Er will endlich heraus aus seinem jahrzehntelangen Leid, glücklich sein und dazugehören.

Loslassen
Seine Beharrlichkeit wird belohnt. Jesus bleibt stehen und sagt zu den Leuten: Ruft ihn her. Er könnte einfach zu Bartimäus hingehen, aber durch seine Aufforderung an die Leute, ihn zu rufen, zeigt er ihnen, dass der Bettler zu ihnen gehört und sie verpflichtet sind, ihm zu helfen. Er drückt damit auch aus, dass er diesen armseligen Bettler achtet und ihn für würdig hält, mit ihm zu reden. Eingeschüchtert von Jesus, ermutigt ihn die Menge nun zu gehen, vielleicht hoffen die Leute aber insgeheim, dass Jesus ihn zurückweist.

Doch Bartimäus überlegt nicht, sondern springt voller Hoffnung auf, seine Lebensfreude ist wieder erwacht und erwartungsvoll geht er zu Jesus. Als Zeichen für die Bereitschaft, das Alte hinter sich zu lassen und einen neuen Weg zu gehen, wirft er seinen Mantel ab. Die dicken Schutzmauern, für die das Kleidungsstück steht, braucht er bei Jesus nicht. Vor ihm kann er sich zeigen, wie er ist, in all seiner Nacktheit, Verletzlichkeit und Schwäche, aber auch mit seinem sehnlichsten Herzenswunsch. Jesus könnte ihn auch enttäuschen, doch diesen Gedanken lässt er gar nicht erst zu. Er fühlt die Liebe Jesu und vertraut ihm vollkommen.

Heilung
Nun steht er vor Jesus, der ihn fragt: Was willst du, dass ich Dir tue? Er antwortet: Rabbuni, ich möchte wieder sehen können. Er anerkennt Jesus als seinen Herrn, nennt ihn „mein Meister“, den er vertrauensvoll um Hilfe bittet. Jesus tut nichts, er berührt ihn nicht einmal, wie bei anderen Heilungen oft. Bartimäus’ Glaube ist so stark, dass er keine symbolische Handlung braucht. Der blinde Bettler und Jesus sind eins in der Liebe – zu Gott, zu sich selbst und zu den Menschen. Jesus bestätigt nur den Glauben und das Vertrauen von Bartimäus. Und deshalb sagt er zu ihm: Geh! Dein Glaube hat dich gerettet. Und in diesem Augenblick kann Bartimäus wieder sehen. Jesus kann ihn nur heilen, weil Bartimäus in dem Moment, wo er vor Jesus steht, eins ist mit sich selbst und mit Gott, kein Millimeter Zweifel hat Platz. Der blinde Bettler Bartimäus steht in all seiner Schwachheit, aber auch in seinem großen Potential ganz zu sich selbst und zu seinem sehnlichsten Herzenswunsch. Gedanken, Gefühle, Worte und Handlungen sind vollkommen eins – und deshalb erfüllt sich sein größter Traum auch. Denn er weiß, dass er ein Ebenbild Gottes ist, ausgestattet mit göttlicher Schöpfungsmacht. Wenn er im Zustand der reinen Liebe ist und das auch fühlt, kann er Großes erschaffen. Aus diesem Bewusstsein heraus kann das Wunder an ihm geschehen. Jesus, der Sohn Gottes, bestätigt Bartimäus’ göttliche Schöpfungsmacht, die sich in seinem tiefen Glauben ausdrückt, und fordert ihn auf, nun seinen eigenen Weg zu gehen.

Neues Leben
Als Bartimäus wieder sehen kann, schaut er nicht mehr zurück. Er holt nicht einmal mehr sein Kleidungsstück, sein einziges Eigentum, denn er braucht jetzt keinen Schutzmantel mehr. Die zwar vertraute, aber total begrenzte Komfortzone verlässt er und gibt damit alle Scheinsicherheiten auf. In diesem Augenblick der Heilung wird er wieder sehend und öffnet sich so für die ganze Fülle des Lebens, öffnet sich für das Feld der unbegrenzten Möglichkeiten. Er beginnt sofort ein neues Leben und geht mutig mit Jesus, ohne zu wissen, was ihn erwartet. Er hat den Weg des Herzens gewählt, weil ihm bewusst ist, dass dieser Weg immer der richtige Weg ist. Gottes Wille zeigt sich in unseren Herzenswünschen, denn Gott ist bedingungslose Liebe. Und wer liebt, will immer, dass der geliebte Mensch glücklich ist.

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