Auf Veränderung hinarbeiten – 23. Sonntag im Jahreskreis B

Erste Lesung aus dem Buch Jesaja, Kapitel 35
4 Sagt den Verzagten: / Seid stark, fürchtet euch nicht! Seht, euer Gott! / Die Rache kommt, die Vergeltung Gottes! / Er selbst kommt und wird euch retten.
5 Dann werden die Augen der Blinden aufgetan, / und die Ohren der Tauben werden geöffnet.
6 Dann springt der Lahme wie ein Hirsch / und die Zunge des Stummen frohlockt, denn in der Wüste sind Wasser hervorgebrochen / und Flüsse in der Steppe.
7 Der glühende Sand wird zum Teich / und das durstige Land zu sprudelnden Wassern.

Aus dem Evangelium nach Markus, Kapitel 7
In jener Zeit
31 verließ Jesus das Gebiet von Tyrus und kam über Sidon an den See von Galiläa, mitten in das Gebiet der Dekapolis.
32 Da brachten sie zu ihm einen, der taub war und stammelte, und baten ihn, er möge ihm die Hand auflegen.
33 Er nahm ihn beiseite, von der Menge weg, legte ihm die Finger in die Ohren und berührte dann die Zunge des Mannes mit Speichel;
34 danach blickte er zum Himmel auf, seufzte und sagte zu ihm: Effata!, das heißt: Öffne dich!
35 Sogleich öffneten sich seine Ohren, seine Zunge wurde von ihrer Fessel befreit und er konnte richtig reden.
36 Jesus verbot ihnen, jemandem davon zu erzählen. Doch je mehr er es ihnen verbot, desto mehr verkündeten sie es.
37 Sie staunten über alle Maßen und sagten: Er hat alles gut gemacht; er macht, dass die Tauben hören und die Stummen sprechen.

Autorin:
4546 023bMaria Sinz, Gemeindereferentin in Aalen, KAB
(Kath.Arbeitnehmer*innen-
bewegung)

 
Die Predigt:
Auf Veränderung hinarbeiten

Liebe Leserin, lieber Leser,
Alles wird gut
mit diesen Worten sprechen wir manchmal eine Zuversicht aus, die eher Hoffnung als Gewissheit in sich birgt. Etwa wenn eine Freundin oder ein Freund eine niederschmetternde Lage beschreibt und wir durch Hören Anteil nehmen. Gerade am Tiefpunkt wächst wieder Stärke. Im poetischen Jesajatext werden wankende Knie wieder fest. Die Aufmerksamkeit Gottes ist ganz beim Gebeugten, bei der Niedergeschlagenen. Rachegedanken können getrost Gott überlassen werden, sie übernimmt das. Im biblischen Verständnis bewahrt dies Menschen davor, selber Vergeltung üben zu müssen. Gott wird rächen und retten. Eine Lesart beschreibt retten als entreißen, wegnehmen, befreien aus allerlei Festgehaltenwerden.1) Und wenn es soweit ist, dann werden die Augen der Blinden geöffnet, auch die Ohren der Tauben und

der Stumme spricht.
Er hat alles gut gemacht sagen die Leute, als die Zunge von ihrer Fessel befreit ist. Die Person konnte richtig reden. Nehmen wir also an, die Worte sind klar artikuliert, die Person kann sich verständlich machen. Richtig reden können meint darüber hinaus aber viel mehr. In der KAB nennen wir es das ‚Leben zur Sprache bringen‘, das eigene Leben, die eigenen Erfahrungen. Dabei hören wir sehr viel, was nicht gut ist, auch wenn diejenigen, die das Sagen haben, rhetorisch gewandt, die Szene beherrschen. Ein Personalrat kritisiert zum Beispiel: „Zwar wurden durch die Pandemie im Vorfeld von allen möglichen Stellen, bis hin zur Bundeskanzlerin, deutliche Verbesserungen bei den Einkommen der Pflegekräfte angemahnt. In den Verhandlungen kam dann allerdings kaum etwas heraus. Eine dringend nötige Verbesserung bei den Zuschlägen für die besonders belastenden Nacht- und Wochenenddienste wurde komplett verweigert.“

Reden können setzt Hören voraus. Zuweilen tragen wir Gehörtes auf die Straße, als unseren öffentlichen Ort und wir schaffen Diskussionsräume. Wenn wir Orte schaffen können, an denen Erfahrungen von Arbeitern und Arbeiterinnen gehört werden, sehen wir uns auf dem Weg Jesu, der Zungen von Fesseln befreit.

wachsende soziale Ungleichheit
Seit einigen Jahren erleben wir, wie soziale Ungleichheit wächst und zementiert wird. Während Pfleger und Pflegerinnen über ihre Grenzen gehen, um die ihnen anvertrauten Menschen zu versorgen, versprechen andererseits Beteiligungen an Pflegekonzernen satte Renditen. Eines von vielen Feldern.

Die Entwicklung von Vermögen und Einkommen geht seit Jahren stetig auseinander. Mietbelastungen bewegen sich sich bei immer mehr Menschen auf die 40% Marke ihres Einkommens zu, Immobilien werden für Normalverdiener unerschwinglich. Nachdem in der Nachkriegszeit politisch eher auf Annäherung gesteuert wurde, hat die soziale Ungleichheit seit den 1990er Jahren zugenommen und geht auf das Niveau von vor 1914 zu. In der sozialen Marktwirtschaft hatten sich viele gerne zur Mitte zugehörig gesehen. Doch jetzt wird grundsätzlich das Problem erkannt, dass ein immer größer werdender Teil der Menschen, Arbeiter und Arbeiterinnen, abgehängt werden. In der Sozialwissenschaft wird die Frage aufgeworfen, ob Quoten sinnvoll wären, die eine Beteiligung von Arbeiterinnen und Arbeitern an politischen Entscheidungsprozessen sicher stellen. Ziel ist, deren Stimme im Sinne von ihren Lebenserfahrungen – wieder – in demokratische Entscheidungsprozesse einzubeziehen, was in den 50er bis Ende 80er Jahre gegeben war.

Heute aber, werden, ganz wie es im Jakobusbrief(Jak 2,1-5), dem dritten Text des Leseplans, kritisiert wird, große Unterschiede im Ansehen gemacht. Reich und Arm werden nicht gleichermaßen gehört in gesellschaftlichen Verhandlungsprozessen oder bei politischen Beratungen. Sie bekommen unterschiedliche Plätze eingeräumt oder zugewiesen. Faktisch werden Arbeiterinnen und Arbeiter stumm gemacht.

aus Liebe zur Wirklichkeit
titelt eine Beschreibung des geistlichen Weges nach Ignatius. Wahrnehmen was ist und gleichzeitig getragen sein von Gottvertrauen. Die Bibel spricht von der Verheißung des messianischen Heils. Jesaja ist dafür bekannt. Er greift den Zustand auf, sich in ungerechten Strukturen festgehalten zu sehen und dabei auf Hoffnung ausgerichtet zu sein. Jesaja spricht davon in kraftvollen Bildern, die Sehnsucht wecken. Wenn es einen fast zerreißt und es nicht mehr zum Aushalten scheint, dann kommen die Trostworte Jesajas, die ermutigen und aufrichten.

Dazu drängt sich der Vergleich mit einer im letzten Jahr erschienenen sozialwissenschaftlichen Studie 2) auf. Sie beschreibt soziale Ungleichheit über einen Zeitraum von mehr als dreihundert Jahren mit dem Blick auf europäische, lateinamerikanische, afrikanische und asiatische Länder. Eine gigantische Arbeit, die zusammengetragen wurde: statistisches Material aufspüren und auswerten, vergleichen. Was beschrieben wird, ist teilweise ernüchternd, schmerzhaft bis empörend. Zum Beispiel, dass Haiti heute ein armes Land ist, weil es über hundert Jahre hinweg bis in die 1950er Jahre Milliarden an Frankreich zahlte – als Entschädigung für ehemalige Sklavenhalter!

…verstehen…
Der Autor will, dass Leser*innen verstehen was geschehen ist. Und er betont: historische Situationen beinhalten immer unterschiedliche Handlungswege. Nichts ist zwangsläufig so geschehen, wie es war. Es gibt keinen historischen Automatismus. Komplexe historische Situationen verstehen. Verstehen, wie sehr die Haltung der Besitzenden zur Eigentumsfrage die Geschichte und das konkrete Leben derer, die nur ihre Arbeitskraft ihr eigen nennen, prägen. Auch verstehen, dass jahrhundertelang tatsächlich geglaubt wurde, die zentrale Frage sei der Schutz des Eigentums, um die Ordnung der Welt aufrecht zu erhalten. Die Studie beschreibt, wie das sozialdemokratische (hier verstanden als sozialwissenschaftlicher, nicht parteipolitischer Begriff) Zeitalter der Nachkriegsjahrzehnte, in Europa diese Überzeugung relativiert hat, und wirtschaftliche Stabilität nicht zusammengebrochen ist sondern im Gegenteil sich stabilisiert hat.

… utopisch bleiben…
Ideen können Wirklichkeit verändern und gestalten, auch die Idee, die Haltung zur Eigentumsfrage grundsätzlich zu ändern, etwa als zeitlich begrenztes Eigentum. Ähnliche Vorstellungen finden sich auch in Bewegungen der ‚verantworteten Unternehmerschaft‘. Solches Denken hat erneuernde Kraft. Und bringt den christlichen Grundgedanken, ‚die Erde gehört Gott‘ ein Stück in die Wirklichkeit.

Und es ist verwandt mit der jesuanischen Haltung, auf den Gebeugten zu schauen, ganz beim Taubstummen zu sein. Mit der Heilung wird verkündet: es muss nicht bleiben wie es ist. Bei Jesaja heißt das …dann werden die Augen der Blinden geöffnet, auch die Ohren der Tauben sind wieder offen. Dann springt der Lahme wie ein Hirsch, die Zunge des Stummen jauchzt auf. In der Wüste brechen Quellen hervor und Bäche fließen in der Steppe.

In der Spannung, sehen was ist und was sein könnte, bleiben wir lebendig und ja, das tut oft sehr weh. Zwei Momente möchte ich betonen: Die Bibel spricht nicht losgelöst von der Realität von individuellem Glück oder Unglück. Biblisch gesehen interessiert vor allem „das gute Leben für alle“. Und wenn Gott tröstet ist damit niemals Vertröstung gemeint, sondern Angenommensein, Geborgenheit, Ermutigung.

…und arbeiten
Dem messianischen Gedanken treu bleiben bedeutet, realistisch werden und für wahr nehmen, dass Verhältnisse nie unabänderlich, sondern grundsätzlich das Ergebnis menschlicher Entscheidungen sind und gestaltet werden können. Und das, liebe Freunde und Freundinnen, ist unendlich viel Arbeit. Denn wir können nicht schnell mal, mit viel Geld Entscheidungsträger in unsere Bahnen lenken. Wollen wir auch nicht. Wir wollen hören, reden, überzeugen, streiten, ermutigen, kämpfen, gemeinsam weiterkommen, auf dem Weg des „guten Lebens für alle“, die biblische Idee, von der wir uns gerne fest halten lassen.

Frauen und Männer der KAB, Delegierte der Bundesversammlung 2021, haben ein wahrhaft utopisches Ziel gesteckt: wir wollen prekäre Arbeit, Arbeit, die keine soziale Sicherheit bietet, abschaffen. Ein bedeutender Schritt, um zementierte soziale Ungleichheit wieder aufzubrechen und zu verändern. Die Versammlung zeigt, im Miteinander entsteht der Mut zu großen Ideen. Auch eine eher bescheidene Bewegung wie die KAB kann in das Gesamte der Arbeiterbewegung ihre Vision einbringen, ihren Beitrag leisten, dafür einstehen, aktiv werden und andere mitnehmen. Wunderbar viel Arbeit.

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1) Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament, WBG, 62004
2) Piketty, Kapital und Ideologie, C.H.Beck 2020
Ein kleiner Schritt zum Mitmachen: unsere Petition Pflege braucht Zukunft unterzeichnen : https://chng.it/SgXg4q86

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