Den anderen Menschen sehen – 5. Sonntag im Jahreskreis B

Erste Lesung aus dem Buch Jiob, Kapitel 1
Jiob ergriff das Wort und sprach:
1 Ist nicht Kriegsdienst des Menschen Leben auf der Erde? /
Sind nicht seine Tage die eines Tagelöhners?
2 Wie ein Knecht ist er, der nach Schatten lechzt, /
wie ein Tagelöhner, der auf den Lohn wartet.
3 So wurden Monde voll Enttäuschung mein Erbe /
und Nächte voller Mühsal teilte man mir zu.
4 Lege ich mich nieder, sage ich: /
Wann darf ich aufstehn? Wird es Abend, bin ich gesättigt mit Unrast, bis es dämmert.
6 Schneller als das Weberschiffchen eilen meine Tage, /
sie gehen zu Ende ohne Hoffnung.
7 Denk daran, dass mein Leben nur ein Hauch ist. /
Nie mehr schaut mein Auge Glück.

Aus dem Evangelium nach Markus, Kapitel 1
In jener Zeit ging Jesus
29 zusammen mit Jakobus und Johannes in das Haus des Simon und Andreas.
30 Die Schwiegermutter des Simon lag mit Fieber im Bett. Sie sprachen sogleich mit Jesus über sie,
31 und er ging zu ihr, fasste sie an der Hand und richtete sie auf. Da wich das Fieber von ihr und sie diente ihnen.
32 Am Abend, als die Sonne untergegangen war, brachte man alle Kranken und Besessenen zu Jesus.
33 Die ganze Stadt war vor der Haustür versammelt,
34 und er heilte viele, die an allen möglichen Krankheiten litten, und trieb viele Dämonen aus. Und er verbot den Dämonen zu sagen, dass sie wussten, wer er war.
35 In aller Frühe, als es noch dunkel war, stand er auf und ging an einen einsamen Ort, um zu beten.
36 Simon und seine Begleiter eilten ihm nach
37 und als sie ihn fanden, sagten sie zu ihm: Alle suchen dich.
38 Er antwortete: Lasst uns anderswohin gehen, in die benachbarten Dörfer, damit ich auch dort verkünde; denn dazu bin ich gekommen.
39 Und er zog durch ganz Galiläa, verkündigte in ihren Synagogen und trieb die Dämonen aus.

Autorin:
4546 023b Maria Sinz, Gemeindereferentin, Sekretärin für Pflegepolitik in der Katholischen Arbeitnehmer*innen Bewegung, Aalen

 
Die Predigt:
Den anderen Menschen sehen

Liebe Leserin, lieber Leser,
Der Not Abhilfe schaffen
harter Tobak sind die Worte aus der ersten Lesung. Das Buch Ijob gilt als ein Hauptwerk der Weltliteratur, spätestens 200 v.Chr. liegt es in der heute bekannten Form vor. In dichterischer Form setzt sich Ijob mit drei Freunden über Ungerechtigkeit und Leid auseinander. Die Haltung der Freunde ist verkürzt gesagt: dem wirklich guten Menschen geht es in seinem Leben gut, Leid ist demnach eine Strafe für Verfehlungen. Eine Sichtweise, die keineswegs überwunden ist, vielmehr in rechten religiösen Bewegungen auch heute noch verbreitet wird. Linke religiöse Bewegungen lehnen grundsätzlich eine rein individualistische Sichtweise ab und betonen die Ursachen von Leid sei in den Blick zu nehmen. Der Unterschied wird anschaulich in einem Spruch von Dom Helder Camara: „Wenn ich einem Hungrigen Brot gebe, nennt man mich einen Heiligen, wenn ich frage warum er hungert, nennen sie mich Kommunist.“

Ijob wehrt sich standhaft. Lehnt die Interpretation der Freunde ab, seine Not sei selbstverschuldet, bleibt beharrlich loyal zu Gott und fordert diesen schließlich zu einer Antwort heraus. Eine Lösung wird nicht angeboten.

Lesen wir den Evangeliumstext als Antwort. Hier spielt die Frage nach Verfehlung und Schuld schlicht keine Rolle. Es geht einfach um Heilung. An erster Stelle steht, ohne jede Frage, der Not Abhilfe zu schaffen. Die Schwiegermutter des Petrus und dann viele, die an allen möglichen Krankheiten litten, so heißt es; die ganze Stadt war vor der Haustür versammelt. Es geht folglich nicht um ein individuelles Problem. Krankheit und „Dämonen“ betreffen alle. Jesus ruht sich auch nicht auf dem Erfolg in Kafarnaum aus, es drängt ihn weiter zu gehen.

Die Not des Lebens
Mit diesen Worten titelt die Einheitsübersetzung die heutige Lesung aus dem Buch Ijob. Es sind drastische Worte, wie ein Knecht, der nach Schatten lechzt, heißt es da. Und doch sind sie nicht übertrieben. Auch heute nicht. Mitten unter uns. In Einrichtungen auf die wir alle angewiesen sind. Ich spreche vom Sektor Pflege. Krankenhäuser, Pflegeheime, ambulante Pflege. Seit zehn Jahren begleite ich Arbeitnehmer*innen in der Pflege. Frauen und Männer, die ihren Beruf gerne ausüben und doch nach und nach regelrecht niedergestreckt werden durch die Rahmenbedingungen. Zeitdruck, Hetze, Sparen auf dem Rücken der Beschäftigten, Wettbewerb, Ökonomisierung. Es ist nicht übertrieben, in der religiösen Sprache zu sagen: wir leiden an den Arbeitsbedingungen.

Monde voll Enttäuschung wurden mein Erbe
So würden es die Kolleginnen nicht sagen, doch das beschreibt das Erleben ziemlich gut. Vor nunmehr acht Jahren, am 7. Oktober 2013 brachten 100 Frauen und Männer zum Ausdruck was Sache ist: die Pflege liegt am Boden. Initiiert von Frauen, die nie vorher ausgesprochen politisch aktiv waren, Halina, Margit, Heike, Ute, und viele andere: einfach mal zeigen so können wir nicht mehr. Unzählige Gespräche mit Verantwortlichen, immer wieder hoffen auf die nächste Pflegereform und immer wieder die Enttäuschung, es kommt einfach nichts an bei uns im Kernbereich, da wo die Arbeit von Mensch zu Mensch getan wird. Und sehr gut getan wird.

Mittlerweile in der Covid-19-Pandemie wurden sie beklatscht und als systemrelevant bezeichnet, doch die Verhältnisse ändern sich nicht. Im Gegenteil: 12 Stunden Schichten bis zu 14 Tage am Stück, der gesetzliche Rahmen wird voll ausgereizt. Für eine Ablösung ist schlicht niemand da. „Ich kann nicht gehen, wenn keiner zur Spätschicht kommt, also arbeite ich weiter.“ Jetzt wird offensichtlich, woran das System krankt. Pflegepersonal wurde seit Jahren planmäßig eingespart.

Verantwortlich handeln
Und was geschieht, wenn Menschen verantwortlich handeln und sagen was ist? Ein Beispiel: Ramona Knezevic, Intensivpflegerin an der Asklepios Klinik St Georg in Hamburg. In einem Beitrag des NDR schildert sie, dass der Pflegeschlüssel aktuell bei 1:5 statt 1:2 liegt, dass Pfleger*innen darüber hinaus Reinigungs-und Servicearbeiten übernehmen, weil in diesen Bereichen Personal gekürzt wurde. Und dass in dieser Situation Menschen einsam sterben, weil schlicht niemand da ist. Asklepios bezichtigt sie der Lüge und kündigt ihr. Ramona legt Klage beim Gericht ein. Schon lange fordern Pfleger*innen in Hamburg den Senat zum Gespräch auf, sich um die Kontrolle der Situation in Hamburger Kliniken zu kümmern.

Verantwortlich gemacht werden
„Und wir sind jetzt wieder an allem Schuld“ ist ein Tenor in aktuellen Gesprächen. Angehörige bestürmen eine Heimleitung, weil nicht täglich getestet werde. An anderer Stelle wird betont, dass Pflegekräfte besonders verantwortlich seien, weil sie den Virus ins Pflegeheim brächten. Keine Rede davon, dass sie am Arbeitsplatz besonderen Gefahren ausgesetzt sind und umgekehrt zu Hause möglicherweise ihre Familien anstecken. Auch wie über Pflegekräfte als nicht ausreichend impfbereit öffentlich gesprochen wurde, hat viele Kolleginnen verletzt. Die letzten Wochen zeigen, Pfleger*innen waren zurecht skeptisch angesichts des Applauses im vergangenen Frühjahr. Der Ton in dem über Pflegende geredet wird, ist nicht weit weg von dem was Ijobs Freunde tun. Statt ihn zu sehen, beschäftigen sie sich mit Schuldargumentationen.

Augenhöhe herstellen
Das Evangelium als Antwort lesen bedeutet nicht, konkrete politische Lösungen auf unsere aktuelle Situation zu finden. Diese werden in Diskurs und Auseinandersetzung errungen. Was im heutigen Evangelium so klar und schlicht entgegenkommt, es geht darum den anderen zu sehen. Jesus stellt keine Ansprüche, macht niemanden verantwortlich, fragt nicht nach Schuld, er heilt.

Wieviel Heilungspotential läge heute darin, wenn Pflegende gesehen und gefragt würden: was braucht ihr? Und dann solidarisch eine gemeinsame Kraftanstrengung gemacht würde. Statt dessen raten Freunde, ein bisschen wie bei Ijob: ihr müsst halt kämpfen, euch wehren. Politiker sagen mit Vorliebe: Sie müssen sich organisieren. Grundsätzlich stimmt das ja auch, aber platsch, der Ball ist wieder bei den Pflegenden. Denn Politiker sagen dies mit Vorliebe, um vom eigenen Handlungs-und Verantwortungsraum abzulenken.

Pflege ist keine Privatwirtschaft, sondern ein Bereich mit überdurchschnittlichem gesellschaftlichen Nutzen, oder anders gesagt mit grundsätzlicher gesellschaftlicher Bedeutung. Wer also kommt heute, sieht Pflegende, fragt: was braucht Ihr, und ermutigt: gemeinsam schaffen wir das?

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3 Antworten auf Den anderen Menschen sehen – 5. Sonntag im Jahreskreis B

  1. Lydia sagt:

    Beeindruckend – eine Predigt am Puls der Zeit – die Bibel aktuell ausgelegt. DANKE.
    Wo bleibt die Solidarität unserer Kirchenleitungen mit den Pflegenden?
    Wer macht sich -außer der KAB – kirchlicherseits zu ihrem Anwalt?
    Was kann jede von uns tun?
    Mit diesen Fragen bleibe ich beschäftigt.

  2. Maria sagt:

    Zwei weitere Tipps
    http://www.hamburger-krankenhausbewegung.de
    Oder am 18.2. Mitmachen bei der Diskussion Pflege braucht Zukunft.
    Anmelden unter kab@blh.drs.de

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