Ist Feindesliebe wirklich möglich? – 7. Sonntag im Jahreskreis C

Aus dem Evangelium nach Lukas, Kapitel 6
In jener Zeit sprach Jesus zu seinen Jüngern – und Jüngerinnen:
27 Euch aber, die ihr zuhört, sage ich: Liebt eure Feinde; tut denen Gutes, die euch hassen.
28 Segnet die, die euch beschimpfen; betet für die, die euch misshandeln.
29 Dem, der dich auf die eine Wange schlägt, halt auch die andere hin, und dem, der dir den Mantel wegnimmt, lass auch das Hemd.
30 Gib jedem, der dich bittet; und wenn dir jemand das Deine wegnimmt, verlang es nicht zurück.
31 Was ihr von anderen erwartet, das tut ebenso auch ihnen.
32 Und wie ihr wollt, dass euch die Menschen tun sollen, das tut auch ihr ihnen.
33 Und wenn ihr denen Gutes tut, die euch Gutes tun, welchen Dank erwartet ihr dafür? Denn auch die Sünder lieben die, von denen sie geliebt werden.
34 Und wenn ihr Gutes tut, von denen ihr es zurückzubekommen hofft, welchen Dank erwartet ihr dafür? Auch die Sünder leihen Sündern in der Hoffnung, alles zurückzubekommen.
35 Ihr aber sollt eure Feinde lieben und sollt Gutes tun und leihen, auch wo ihr nichts dafür erhoffen könnt. Dann wird euer Lohn groß sein und ihr werdet Söhne des Höchsten sein; denn auch er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen.
36 Seid barmherzig, wie es auch euer Vater ist!
37 Richtet nicht, dann werdet auch ihr nicht gerichtet werden. Verurteilt nicht, dann werdet auch ihr nicht verurteilt werden. Erlasst einander die Schuld, dann wird auch euch die Schuld erlassen werden.
38 Gebt, dann wird auch euch gegeben werden. In reichem, vollem, gehäuftem, überfließendem Maß wird man euch beschenken; denn nach dem Maß, mit dem ihr messt und zuteilt, wird auch euch zugeteilt werden.

Kerze
Autorin:
Sigrid Haas, Diplomtheologin, Mannheim

 
Die Predigt:
Ist Feindesliebe wirklich möglich?

Liebe Leserin, lieber Leser,

Herausforderung pur

Für unsere Feinde und Feindinnen beten, sie segnen, ja sogar lieben, ihnen verzeihen, Böses mit Gutem beantworten, die andere Wange hinhalten, nichts zurückverlangen, freigiebig sein, nicht über andere richten, barmherzig sein wie Gott. Wahrlich, ein äußerst herausforderndes Lebensprogramm, mit dem Jesus seine Zuhörer und Zuhörerinnen da konfrontiert!

Durch seine provokative Rede will Jesus uns aufrütteln: Brecht die jahrtausendealten Glaubens-, Handlungs- und Rechtfertigungsmuster auf, reißt die Mauern um eure Herzen nieder, übertretet eure selbst gesetzten Grenzen. Nicht mehr „Auge um Auge“ soll gelten, sondern Barm-HERZ-igkeit, denn alle sind Kinder des barmherzigen Gottes.

Jesus lebte, was er predigte. Aber ist solches Denken und Handeln nicht total lebensfern, dumm oder sogar gefährlich in einer Welt, in der Ausbeutung, Hass, Gewalt und Krieg vorherrschen? Andererseits, welche Ausstrahlung hätten unsere Gemeinden, wenn wir tatsächlich so leben würden? Wie würde die Kirche, das Land, die ganze Welt sich verändern? Ist das wirklich möglich und wie kann das tatsächlich gelingen?

Eine tiefere Sicht auf das Böse

Das Böse, in all seiner Vielschichtigkeit, hat und braucht seinen Platz – als Gegenpol des Guten. Schon das Alte Testament zeigt das in unzähligen Geschichten, gleich am Beginn mit Kain und Abel (Genesis, Kapitel 4). Denn jeder Mensch hat in sich auch eine „Mördermöglichkeit“, wie der Schriftsteller Hermann Hesse es ausdrückte. Ob wir diese unsere dunklen Seiten ausleben bzw. wie wir mit diesen Gedanken und Gefühlen umgehen, ist jedoch entscheidend.

Schwarz-Weiß-Denken – „die Guten“ und „die Bösen“ – ist allerdings nicht hilfreich. Niemand wird böse geboren, wir können uns jeden Augenblick für die Liebe entscheiden: Wie etwa ein Saulus, der zum Apostel Paulus wurde oder ein Oskar Schindler, der später all sein Vermögen opferte, um möglichst viele seiner jüdischen Angestellten zu retten.

Ebenso wenig verändern Schuldzuweisungen, Abspaltung von Gefühlen und der Kampf gegen das Böse etwas. Dadurch werden die zerstörerischen Energien nur stärker, mit tragischen Auswirkungen wie Kreuzzügen, Hexenverbrennungen, Kriegen, islamistischem Terror und Missbrauch.

Unterdrücken wir all dieses Dunkle, Destruktive in uns, kostet das nicht nur ständig sehr viel Energie, sondern führt zu einem Punkt, an dem es sich unausweichlich entladen muss – je nach persönlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen – nach innen als Krankheit, nach außen in vielen kleinen Portionen oder kollektiv etwa durch Pogrome und Kriege.

Zu erkennen, dass solche Ausbrüche des Bösen Symptome sind für erlittene Traumata und unterdrückte Gefühle, führt zu den Wurzeln. Die Psychotherapeutin Christl Lieben bezeichnete das Böse als verdichtete Verzweiflung. Sie führte Gespräche mit Gewalttätern, sah in tiefste Abgründe und bekannte am Ende „Ich weinte die Tränen der Mörder und fand das Licht.“ Sie erkannte hinter den Tätern Menschen, die durch ihre Tat nicht nur anderen, sondern auch sich selbst tiefe Wunden zugefügt hatten. Und die Psychologin Alice Miller, welche die Lebensläufe vieler Diktatoren und Serientäter analysierte, fand in allen Biographien frühkindliche Erfahrungen von Lieblosigkeit, Demütigungen und Gewalt.

Wenn wir jene, die (uns) Böses (an)tun, als Menschen mit Verletzungen erkennen, dann können wir Verbundenheit und Mitgefühl entwickeln und so wie Jesus handeln. Denn jeder Mensch, sogar ein Mörder, sehnt sich nach Liebe, Anerkennung und Gemeinschaft. Frère Roger von Taizé sagte einmal: „Man muss die Menschen lieben um ihrer unschuldig in der Kindheit erlittenen Wunden willen.“

Das Böse in uns selbst heilen

Heilung kann nur geschehen, wenn wir selbst uns dem Bösen öffnen, indem wir unsere „dunklen Gefühle“ wie Wut, Zorn, Hass, Rache, Angst, Trauer, Verzweiflung, Scham etc. anschauen und wirklich fühlen. Denn sie sind eine Form unseres Selbstausdrucks auf starke emotionale Erlebnisse. Erst diese Zu-Wendung ermöglicht die Wende – die Integration unserer dunklen Seiten, etwa wenn aus Wut Mut wird. Das ist aber oft ein längerer Prozess, besonders bei tiefen Verletzungen durch nahe stehende Menschen oder einer Hass-Liebe.

Denn das, was wir an uns selbst ablehnen oder sogar hassen, können wir auch bei anderen nicht akzeptieren. Wenn wir dagegen die eigenen Wunden und das Böse in uns selbst annehmen, können wir das auch bei anderen. Nächstenliebe, und erst recht Feindesliebe, beginnt mit Selbstliebe und Selbstakzeptanz. Jesus lehnte nichts in sich selbst ab, deshalb konnte er alle Menschen lieben und barmherzig sein.

Von der Wunde zum Wunder

Eine wahre Geschichte über die Energie der Liebe: Eine Frau ging nachts durch einen Park. Plötzlich stand ein Mann vor ihr und bedrohte sie mit einer Waffe. Nach einer Sekunde des Schreckens öffnete sie wieder ihr Herz, verband sich mit dem Mann und fragte ihn: „Herr, was kann ich für Sie tun?“ Dieser war so erstaunt und berührt, dass er die Waffe einsteckte und ihr sein Herz ausschüttete, was ihn zu dieser Tat getrieben hatte.

Würde die Betonung der guten Seiten und Taten denjenigen, die vom rechten Weg abgekommen sind, nicht mehr helfen als Strafen? In afrikanischen Stammesgesellschaften gibt es die Praxis „Wertschätzung statt Ächtung“: Wer etwas getan hat, was der Gemeinschaft geschadet hat, wird nicht verurteilt und eingesperrt, denn er ist Teil der Sippe und braucht sie zur Heilung. Deshalb wird die Person in die Mitte gestellt, alle versammeln sich zwei Tage um sie und sagen ihr alles, was sie jemals Gutes getan hat. Wie wird sich diese Person danach fühlen und wie wird sie zukünftig handeln? Auch der Neurobiologe Gerald Hüther ist überzeugt, dass Heilung verletzter und traumatisierter Menschen nur in Gemeinschaft geschehen kann. Was würde sich verändern, wenn wir in unseren Gemeinden solche heilsamen Rituale feiern würden?

Wir sind alle miteinander verbunden – im Bösen wie im Guten. Deshalb hat jeder Gedanke, jedes Gefühl, jedes Wort und jede Tat Auswirkungen auf unsere Welt. Wenn wir also barmherzig sind wie Jesus und unser Herz für die Wunden der Menschen öffnen, dann kann das Wunder geschehen, dass auch diejenigen, die Böses getan haben oder tun wollen, sich wieder öffnen für die Liebe zu sich selbst, ihren Geschwistern und Gott. Amen.
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Weiterführende Links:
– Buch von Christl Lieben
Im Antlitz des Bösen. Ich weinte die Tränen der Mörder und fand das Licht
– Webseite von Alice Miller
www.alice-miller.com

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Eine Antwort auf Ist Feindesliebe wirklich möglich? – 7. Sonntag im Jahreskreis C

  1. clara a sancta abraham sagt:

    Ich habe heute nach Längerem wieder einmal hier hereingeschaut und die Beiträge nachgelesen.

    Zum Beitrag: „Die Hoffnung stirbt nicht“: Ja, ich spüre meine Grenzen in unserer Kirche wegen meines Geschlechts sehr deutlich und sie schmerzen mich, an manchen Tagen durchaus auch körperlich.

    Und dann steht hier, in diesem Beitrag, nur wenn ich mich meinem Schmerz öffne, meine Gefühle nicht mehr unterdrücke, Wut, Zorn, Trauer… , mich ihnen stelle, dann nur kann ich sie „abarbeiten“ und heil werden.
    „Trauer ist die Lösung, nicht das Problem“ – so der Titel einer Fortbildung, die ich im März besuchen werde. Auch wenn es dabei um den Palliativbereich geht, um die Schnittstelle Theologie – Medizin.
    Ich möchte hoffen, dass mir diese nun sichtbare Verdichtung weiter helfen kann, auch als Frau in unserer Kirche doch heil zu werden.

    Die Ungerechtigkeit uns Frauen gegenüber wird bestehen bleiben,
    da habe ich keine Zweifel.
    Und meine Kraft ist müde, in diesem Bereich etwas ändern zu können.

    ABER:
    Ich möchte nicht müde werden, dem Wunder der Versöhnung, das unserer Heilung möglich macht, leise wie einem Vogel die Hand hinzuhalten (frei nach Rose Ausländer). Ich möchte wieder aufstehen und selbstbewusst und strahlend meinen möglichen Platz einnehmen in der Gemeinschaft der Heiligen, sie so verändern. Beharrlich. Klar. Ohne Schmerzen.
    Ruah, Geistkraft Gottes, sei uns nahe!

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