Anlaufstelle – 4. Sonntag im Jahreskreis C

Aus Psalm 71
1 Herr, ich suche Zuflucht bei dir. Lass mich doch niemals scheitern!
2 Reiß mich heraus und rette mich in deiner Gerechtigkeit, wende dein Ohr mir zu und hilf mir!
3 Sei mir ein sicherer Hort, zu dem ich allzeit kommen darf. Du hast mir versprochen zu helfen; denn du bist mein Fels und meine Burg.
4 Mein Gott, rette mich aus der Hand des Frevlers, aus der Faust des Bedrückers und Schurken!
5 Herr, mein Gott, du bist ja meine Zuversicht, meine Hoffnung von Jugend auf.
6 Vom Mutterleib an stütze ich mich auf dich, vom Mutterschoß an bist du mein Beschützer; dir gilt mein Lobpreis allezeit.
15 Mein Mund soll von deiner Gerechtigkeit künden und von deinen Wohltaten sprechen den ganzen Tag; denn ich kann sie nicht zählen.
17 Gott, du hast mich gelehrt von Jugend auf, und noch heute verkünde ich dein wunderbares Walten.

Aus dem Evangelium nach Lukas, Kapitel 4
Übersetzung: Bibel in gerechter Sprache
20 Als Jesus die Buchrolle geschlossen hatte, gab er sie dem Diener und setzte sich hin. Die Augen aller Menschen in der Synagoge waren erwartungsvoll auf ihn gerichtet.
21 Und er begann er vor ihnen zu reden: „Heute hat sich diese Schrift vor euren Ohren erfüllt.“
22 Alle pflichteten ihm bei und äußerten ihre Verwunderung über die wohlgefälligen Worte, die aus seinem Mund kamen, und sagten: „Ist er nicht ein Sohn des Josef?“
23 Und er sprach zu ihnen: „Sicher werdet ihr dieses Gleichnis zu mir sagen: Arzt heile dich selbst! So große Dinge sind in Kafarnaum geschehen. Mache sie auch in deiner Heimat!“
24 Er fuhr fort: „Amen, das sage ich Euch: Kein Prophet und keine Prophetin ist angenehm für ihre Heimatstadt.
25 Der Wahrheit gemäß sage ich euch: Viele Witwen waren in den Tagen des Elija in Israel, als der Himmel drei Jahre und sechs Monate verschlossen war und eine große Hungersnot über das ganze Land kam.
26 Zu keiner von ihnen wurde Elija gesandt, nur zu einer Witwe nach Sarepta in Sidonien
27 Viele Aussätzige waren in Israel zur Zeit des Propheten Elischa. Keiner von ihnen wurde rein – nur Naaman, der Syrer.“
28 Als sie dies hörten, platzten alle in der Synagoge vor Zorn.
29 Sie erhoben sich und warfen ihn zur Stadt hinaus. Sie führten ihn sogar bis zum Abhang des Berges, auf dem ihre Stadt gebaut war, um ihn hinabzustürzen.
30 Er aber schritt mitten durch sie hindurch und ging weg.

Anmerkung zu Vers 24: Diese Übersetzung durchbricht das gängige Wort vom Propheten, der nicht anerkannt sei.

Autorin:
VMHEZ64LMaria Sinz, Gemeindereferentin, Aalen

 
Die Predigt:
Anlaufstelle

Liebe Leserin, lieber Leser,
letzte Woche hat mir eine Bekannte eine klare Absage erteilt. Ich hatte sie eingeladen zum Seminartag „Berührung – Biblische Heilungsgeschichten im Arbeitsalltag“. Der Inhalt spreche sie an; aber nein, biblische Texte, das sei nichts für sie. Biblische Sprache und heutige Wirklichkeit passten nicht zueinander. Die Texte hätten ihre Zeit gehabt. Da müsse man so viel Hintergrundinformationen haben und überhaupt, sie lese nicht in der Bibel. – Wir kamen darüber ins Gespräch. In dessen Verlauf hätte ich die Bekannte gerne überredet, einfach mal teilzunehmen. Für mich wäre sie eine interessante Kurs- und Gesprächspartnerin: suchend, nachfragend, kritisch und doch offen. Ich habe sie nicht überredet, doch ist die Vorbereitung für den Seminartag jetzt schon bereichert.

Was mir zunächst deutlich wurde nach dem Gespräch, war, welch ungeheuren Schatz die lebenslange Beschäftigung und Auseinandersetzung mit biblischen Texten darstellt. Und welch unverstellten, einfachen Zugang zu biblischen Texten ich habe. Damit meine ich nicht „naiv“, wie schnell unterstellt werden könnte. Es ist vielmehr eine Neugier und die Gewissheit, bei jeder Auseinandersetzung auf neue Aspekte zu stoßen. In gewisser Weise eine phänomenologische Haltung, die geworden und gereift ist. Mir dessen im Gespräch bewusst zu werden, das freute mich. Trotz Absage.

Was mich erstaunt, ist, dass die Unbeschwertheit im Umgang mit biblischen Perikopen einhergeht mit einer Schwerfälligkeit, was mein Beten betrifft. Jahrzehntelang hatte ich mich auf das „Vater unser“ beschränkt. Darüber hinaus war gegenstandsloses Verweilen im Schweigen meine Gebetsform. Auch heute bete ich in Worten nur in Gemeinschaft, fühle mich da aufgehoben. Vor diesem Hintergrund wird vielleicht nachvollziehbar, wenn ich bemerke: Beneidenswert, dieser Psalmbeter.

Er scheint ganz selbstverständlich im Gespräch mit Gott zu sein. Er fordert, bittet und erinnert an Versprechen. Seit früher Kindheit ist er gewohnt zu einem personalen Gott, zu einem Du zu sprechen. Er wendet sich hin zu einem Gegenüber und erwartet Zuwendung. Zeitlebens wiederholt der Beter dies in Höhen und Tiefen und geht unverbrüchlich von der Gegenwart dieses Du aus. Dieses Tun wirkt auf mich stärker als der Inhalt des Gebetes. Darin klingt ein Wissen um Zugehörigkeit zu einem größeren Ganzen durch. Gleichzeitig tritt der Betende diesem Ganzen gegenüber, wendet sich ihm zu. Er ist nicht auf eine diffuse Weise Teil eines Ganzen. Sondern, aus diesem hervorgegangen, entwickelt, geworden, tritt er in klarer Kontur einem Du gegenüber. Für den Moment des Betens lässt er seine Lebensgeschichte hinter sich und verbindet sich bewusst mit dem Urgrund des Lebens. Ich könnte auch sagen, er legt seine Lebensgeschichte vor Gott. Der Betende bleibt Mensch, nimmt seine Lebensgeschichte wieder auf. Gott bleibt der – ganz – Andere.

Jahrhunderte später nennt Jesus aus Nazaret diesen Gott „Vater“. Er will seine Mitmenschen teilhaben lassen an seiner Verbindung zum Vater. Er zeigt eine Lebensweise aus der Verbindung zum Urgrund des Lebens. Ich und der Vater sind eins, heißt es im Johannesevangelium. Damit ist die Grenze zwischen Mensch und Gott gesprengt. Man könnte auch sagen: in Jesus kommen Mensch und Gott zusammen. „Wahrer Mensch und wahrer Gott“ lautet ein christliches Bekenntnis. Jesus tritt mit einer unvergleichlichen Souveränität auf, die sich allein aus dieser – geglaubten – Wahrheit begründet.

Menschen spüren diese besondere Nähe von Mensch und Gott in Jesus, werden von ihr berührt, sind angerührt. Aus seiner besonderen Verbundenheit zum Vater kann Jesus sich ganz auf die Menschen einlassen, sie umfassen, antworten auf ihre innerlichen Nöte.
Wir Menschen können das nicht. Doch können wir Mit-Sein. Das genügt. Berührt von Jesu Verbindung zum Vater, oder anders gesagt, wenn wir Jesu Wirken von seiner Verbundenheit her verstehen, kann in uns die Erinnerung an ein Urvertrauen anklingen. Die Theologin Monika Renz spricht von „Angeschlossen–Sein“ als existentieller Erfahrung im Gegensatz zum Sich-getrennt-Erleben, Abgeschnitten-Sein. Sie verweist auf den englischen Begriff „to be connected“.

Der Anklang dieses Urvertrauens macht es uns möglich, mit anderen Mit–zu–Sein, Menschen in schwierigen Lebenslagen, in Not oder Krankheit zu begleiten, wie wir gerne sagen. Und umgekehrt auch Freude zu teilen. Die Fähigkeit Mit-zu-Sein ist ein zutiefst menschliches Bedürfnis, das sich auch im Helfen-Wollen ausdrückt, wofür wir gerne als „Gutmenschen“ verspottet werden. Davon lassen wir uns nicht beirren.

Verwirrt sind die Zeitgenossen Jesu allerdings von dessen unvergleichlicher Souveränität, mit der er sagt: „Heute hat sich die Schrift vor euren Ohren erfüllt.“ Was bedeutet: in mir hat sich die Schrift erfüllt. Die Verwirrung steigert sich zum Ärgernis, zur Wut. Sie führt an den Abgrund. Mehrfach wollen Menschen Jesus vertreiben, rauswerfen, weg haben. Und das nachdem sie zunächst fasziniert sind, angezogen sind, von ihm.

Die Theologin Monika Renz liefert eine Deutung, die mich überzeugt. Das Hin und Her von angezogen Sein und wegstoßen Wollen rührt von einer Ambivalenz her, die dem Wissen um das Angeschlossen-Sein an einen Urgrund zu eigen ist. Oder einfacher gesagt, das Hin und Her gehört dazu. Die Verbindung zum Urvertrauen ist für uns nicht so einfach, wie sie klingen mag. Auf dem Weg der Rückbindung ans Urvertrauen gehen wir durch die Erfahrung des notwendigen Getrenntseins hindurch, notwendig auf unserem lebensgeschichtlichen, biografischen, menschlichen Weg zum Individuum, das wir sind. Damit sind noch nicht Schwierigkeiten einer besonderen Lebensgeschichte gemeint, sondern die allgemeine menschliche Realität, condition humaine genannt. Der Weg zur Erinnerung an das Urvertrauen ist folglich ein Weg des Durchschreitens von Ungewissem, das auch bedrohlich wirken kann.

Große Anziehungskraft einerseits, Tabuisierung andererseits. Das Argument für Jesu Verurteilung lautet schließlich aus religiöser Sicht: er behauptet, Gott zu sein. Die von mir zitierte Deutung führt das darauf zurück, dass die Menschen die in Jesus miterlebte direkte Verbindung zum Urgrund einfach nicht aushalten. Vielleicht weil es einfach zu weh tut, mit dieser Verbundenheit in Berührung zu kommen, ohne sie selbst „haben“ zu können? Besser nichts davon wissen wollen, als gleichzeitig den Mangel bewusst aushalten zu müssen?

Meine Erfahrung ist, der Weg zum wirklichen Mit–Sein mit Anderen, führt genau in diese Spannung hinein. Mit jemandem mitgehen kann ich, soweit ich bei mir selber bleibe. Jemandem begegnen kann ich, wenn ich bei mir selbst bin. Wenn ich es aushalte, an meine Grenzen geführt zu werden, innerlich. Wenn ich dabei bleibe und durch meine Ängste durchgehe, dann kann das auch im Mit-Sein weiterbringen. Die Aussicht auf ein Angeschlossen-Sein an einen Urgrund ist dabei nicht einfach so da. Sie muss manchmal regelrecht erharrt werden. Der Blick auf Jesus kann hilfreich sein in dem Sinne, mir zu sagen: auch wenn du gerade überhaupt kein Vertrauen spürst, die Verbindung ist stärker, die Verbundenheit aus der kein Mensch je herausfällt.

Wie beim Beter des Psalmes bleiben damit keine Schwierigkeiten, keine Höhen und Tiefen erspart. Doch macht dieses Sich-im-Gebet-Verbinden freier. Frei von „ich müsste das doch meistern können“, frei von „ich genüge nicht“ oder Ähnlichem. Frei für die manchmal schmerzhafte Erkenntnis: Du bist da, das genügt.
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Literatur: Monika Renz, Der Mystiker aus Nazaret, Jesuanische Spiritualität, Kreuzverlag 2014.

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3 Antworten auf Anlaufstelle – 4. Sonntag im Jahreskreis C

  1. Walter sagt:

    …kalt…
    Ablehnung schafft Defizit,macht siech.
    Vielleicht hat in der Zuwendung nicht zu den „Gesetzestreuen“, sondern zu den Siechen Gott-Jesus das „Wort“ erfüllt, und damit das „Gesetz“ als unbarmherzig entlarvt.
    Damals war es wohl genauso kalt in den „Kirchen“/Synagogen etc. wie heute…

  2. Gabriele sagt:

    Liebe Maria,
    DANKE, für diese persönliche Auslegung. Habe sie heute in einer Mittagspause gelesen und sie hat mich angerührt.

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