Habt ihr noch kein Vertrauen? – 12. Sonntag im Jahreskreis B

Aus dem Evangelium nach Markus, Kapitel 4
Übersetzung: Bibel in gerechter Sprache
35 Am Abend jenes Tages sagte Jesus zu seinen Jüngerinnen und Jüngern: “Lasst uns ans andere Ufer fahren.“
36 Sie schickten die Volksmenge weg und nahmen ihn so, wie er war, im Boot mit. Weitere Schiffe begleiteten das Boot.
37 Da kam ein heftiger Sturmwind auf, und die Wellen schlugen ins Boot, so dass es voll Wasser lief.
38 Jesus lag im Heck und schlief auf einem Kissen. Sie weckten ihn und riefen: „Lehrer, machst du dir keine Sorgen, dass wir dabei sind unterzugehen?“
39 Der Aufgeweckte drohte dem Wind und sagte zum See: “Schweig! Sei still !“ Da legte sich der Wind, und es wurde völlig still.
40 Er fragte sie:“ Was fürchtet ihr euch? Habt ihr noch kein Vertrauen?“
41 Nun ergriff sie große Ehrfurcht, und sie sprachen zueinander: “Wer ist das, dass selbst Wind und See ihm gehorchen?“

Autorin:
VMHEZ64LMaria Sinz, Gemeindereferentin, Aalen, stellvertretende geistliche Leiterin der KAB (Katholische Arbeitnehmerbewegung)

 
Die Predigt:
Habt ihr noch kein Vertrauen?

Liebe Leserin, lieber Leser,
im Volksmund heißt es: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.
Verena Bentele, blinde Spitzensportlerin und mittlerweile Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, kehrt diese Weisheit um und behauptet: Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser. So lautet der Titel ihres 2014 erschienen Buches. Sie beschreibt, wie sie durch Vertrauen eigene Grenzen verschieben und Sicherheit gewinnen konnte und will diese Erfahrungen anderen weitergeben.

„Vertrauen trainieren bedeutet, Hindernissen und Grenzen ihren negativen Beigeschmack zu nehmen und sie als Herausforderung zu sehen, an der man wachsen kann“, schreibt sie und weiter: “Wenn ich mich auf jemanden verlassen und mich ihm anvertrauen kann, trainiere ich die Sicherheit, um mit den Risiken des Lebens umgehen zu können.“ Sie weiß wovon sie spricht. Sie verlässt sich im Langlauf und im Biathlon auf die Augen und die Kommandos ihres Begleitläufers. Diese Erfahrung überträgt sie auf das Leben an sich.

Die Menschen mit Jesus im Boot haben noch eine Trainingsstrecke „Vertrauen üben“ vor sich. Bislang erlebten sie schon einige Heilungsbegegnungen, Anfeindungen von toragelehrten Frauen und Männern, hörten Gleichnisse vom Wachsen der Saat, und die Aussage: „Alle, die den Willen Gottes tun, sind mein Bruder, meine Schwester und Mutter.“ Und nun den Sturm. Erfahrene Seefahrer, Fischer, die sie sind, werden sie das Nötige getan haben, um das Boot über Wasser zu halten und fragen sich, wie Jesus so seelenruhig auf seinem Kissen schlafen kann. Die Herausforderungen steigern sich. Nach dem überstandenen Sturm wird Jesus den Machtkampf mit einer zerstörerischen Kraft, stark wie eine Schweineherde, aufnehmen und Tote ins Leben zurückholen.

„Was fürchtet ihr euch? Habt ihr noch kein Vertrauen?“
Diese Frage, angesichts kleinerer oder größerer Lebensrisiken gestellt, oder mitten hinein in einen Sturm des Lebens, wie beantworte ich sie?

Wie beantwortet sie der Postzusteller, der im derzeitigen Streik um den Erhalt fairer Entlohnung massiv angegangen wird, der vom Vorgesetzten angerufen wird mit der Information, dass genau kontrolliert werde, wer mitmache, und die Verlängerung des befristeten Arbeitsvertrages ungewiss sei? Er muss vertrauen, dass seine Kolleginnen und Kollegen zusammenhalten, die Gewerkschaft einen guten Job macht und am Ende eine faire Lösung zustande kommt. Gut schlafen wird er, wenn er weiß, dass der Streik als letztes Mittel notwendig und gerechtfertigt ist, gleich welche Erfahrungen auf ihn warten. Gewinnen, scheitern, Kompromiss finden. Risiken, oder Lebensstürme sind Situationen mit offenem Ende.

Beim Sturm auf dem See kommen mir derzeit natürlich die Flüchtlinge im Mittelmeer in den Sinn. Ihr Handeln mit Vertrauen zu beschreiben scheint mir fraglich. Eher mit Verzweiflung und Ausgeliefertsein. Meine Lebenssituation ist fast gleich weit entfernt davon wie vom malerischen Bild der heutigen Textstelle oder wie von der Situation vor über 150 Jahren, als 8 Berliner Postler die erste Kapitallebensversicherung gründeten, indem jeder einen Teil seines Lohnes in eine Kasse zahlte, um im Todesfall Hinterbliebene zu versorgen. Mit diesem Handeln haben sie damals eine Grenze verschoben, Sicherheit gewonnen und Neues ins Leben gerufen. In unserer Zeit, in der Versicherungslobbyisten gewaltigen Einfluss auf Gesetzgebung nehmen (z.B. Pflege-Bahr), fällt es schwer den ursprünglichen, solidarischen Selbsthilfegedanken überhaupt noch zu erkennen. Aber es war schön zu hören, wie der Mitarbeiter der Postversicherung mit Stolz an diesen Ursprung erinnert.

Ich suche nach einem Ort, an dem die Frage nach Vertrauen, in der Gesellschaft, oder – etwas überschaubarer – in meinem Umfeld noch relevant wäre, Sinn machte. In meinem Schwerpunktarbeitsfeld, Arbeitnehmer in der Pflege, höre ich wie die Kolleginnen an der Dokumentationsflut leiden. „Wir dokumentieren um der Beweispflicht gegenüber verschiedenen Prüfinstanzen nachzukommen.“ Perfektes Controlling. Dabei ist Pflege ein Vertrauensgut. Pflegebedürftige müssen den Professionellen, die sie pflegen, vertrauen, dass sie ihre Pflegebedürftigkeit kompetent einschätzen und sich mit ihnen für die richtige Pflege entscheiden. Das Vertrauen, das in der Pflege zwischen Patient oder Bewohner und Pflegenden entsteht, spielt unter Controlling Gesichtspunkten keine Rolle. Für vereinsamte Pflegebedürftige ist es eine wertvolle Lebensqualität: „Die Pfleger trösten mich, wenn mal wieder ein Malheur passiert ist, das hilft mir mich selbst anzunehmen.“

Jesus stellt die Frage: „Habt ihr noch kein Vertrauen?“ an eine Gruppe Erwachsener, die mit ihm unterwegs sind. An dieser Stelle wäre interessant von Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, zu hören, mit welchen Menschen und bei welchen Vorhaben Sie Vertrauen trainieren. Das gäbe eine reiche Vielfalt.

Ich durfte in der KAB schon manche persönliche Grenze verschieben – ich denke an die Entstehung einiger Aktionen – und an anderer Stelle handicaps annehmen, andere sind da, die z.B. reden. Miteinander gehen wir das Wagnis ein, den traditionellen Sozialverband zur kirchlichen Bewegung für soziale Gerechtigkeit in die Zukunft zu leiten. Das Ergebnis ist offen. Stille Momente entstehen in der Verbindung mit dem Ursprung.

Nicht zufällig weist die heutige Leseordnung einen Ausschnitt aus Psalm 107 auf. Die Zeilen führen von Jesus zu Gott zurück. Wer ist das, dass selbst Wind und See ihm gehorchen?

„ Die mit Schiffen das Meer hinabziehen,
auf großen Wassern Handel treiben,
haben die Taten der Einen gesehen,
ihr wunderbares Wirken in der Tiefe:
Sie sprach und ließ einen Sturmwind entstehen,
der türmte seine Wellen auf.
Hoch stiegen sie bis zum Himmel, senkten sich tief bis zur
Urflut.
Ihre Lebenskraft verging im bösen Geschick.
Sie taumelten und wankten wie Betrunkene,
am Ende mit all ihrer Weisheit.
Da schrien sie zur Einen in ihrer Angst-
und sie führte sie aus aller Bedrängnis heraus,
verwandelte den Sturm in Stille – und seine Wellen schwiegen.
Da freuten sie sich, dass endlich Ruhe war
Und sie zum ersehnten Hafen geführt wurden.
Sie danken der Einen für ihre Freundlichkeit,
für ihr wunderbares Wirken an den Menschen.
(Psalm 107, 23-31)

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