Übersetzung: Bibel in gerechter Sprache
In jener Zeit sprach Jesus zu seinen Jüngerinnen und Jüngern:
9 Wie mich Gott geliebt hat, so habe auch ich euch geliebt. Bleibt in meiner Liebe.
10 Wenn ihr meine Gebote haltet, bleibt ihr in meiner Liebe, so wie ich die Gebote Gottes gehalten habe und in ihrer Liebe bleibe.
11 Dies habe ich euch gesagt, damit meine Freude in euch sei und eure Freude vollkommen werde.
12 Dies ist mein Gebot, dass ihr einander liebt, wie ich euch geliebt habe.
13 Es gibt keine größere Liebe, als das eigene Leben für die Freundinnen und Freunde hinzugeben.
14 Ihr seid meine Freundinnen und Freunde, wenn ihr handelt, wie ich euch gebiete.
15 Ich nenne euch nicht mehr Sklavinnen und Sklaven, denn eine Sklavin weiß nicht, wie ihre Gebieterin handelt und ein Sklave kennt das Vorhaben seines Herrn nicht. Euch aber habe ich Freundinnen und Freunde genannt, denn ich habe euch alles, was ich von Gott, meinem Ursprung, gehört habe, mitgeteilt.
16 Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und euch dazu bestimmt, dass ihr hingeht und Frucht tragt und eure Frucht bleibt, so dass euch gegeben wird, um was ihr Gott in meinem Namen bitten werdet.
17 Ich gebiete euch, dass ihr euch gegenseitig liebt!
Autorin:
Angela Repka, Offenbach, Literaturübersetzerin, verheiratet, zwei Söhne, drei Enkelkinder, Ausbildungskurs zum Diakonat der Frau, diakonische Tätigkeit in der Pfarrgemeinde
Die Predigt:
Liebt einander!
Liebe Leserin, lieber Leser,
heute, am sechsten Sonntag nach Ostern, dem Sonntag vor Christi Himmelfahrt, kehren wir im Evangelium ein weiteres Mal in die Zeit vor Jesu Leiden und Tod am Kreuz zurück. Wie damals die Jüngerinnen und Jünger, die den Gekreuzigten als Auferstandenen erfahren haben, werden wir an die Abschiedsreden erinnert, in denen Jesus die Seinen immer tiefer in das Geheimnis seiner Gottesbeziehung und Mission eingeführt hat: Damit sie gewappnet sind für das, was auf sie zukommt, und die Hoffnung nicht verlieren. Damit sie erkennen, was ihnen geschenkt ist und wie sie selbst zur Hoffnung für andere werden können. Er führt sie zum innersten Kern der christlichen Botschaft, mit der alles steht und fällt: der Liebe – denn Gott ist die Liebe, wie es heute in der Lesung aus dem ersten Johannesbrief steht.
Wir wissen, dass es für Jesus keine Gottesliebe ohne Nächstenliebe gibt, dass sich die Liebe zu Gott in echter Liebe zu den Mitmenschen realisiert, dass sie so und nur so, biblisch gesprochen, Fleisch werden kann. Jesus hat die Liebe zu den Menschen gelebt, in der Begegnung mit ihnen wurde die göttliche Macht freigesetzt – eine Macht, die er nicht für sich behalten konnte, sondern mit den Menschen, die ihm vertrauten, die er liebte und die ihm folgten, teilen wollte. Darum nannte er sie Freundinnen, Freunde, für die er bereit war, sein Leben hinzugeben. Er behandelte sie nicht wie Diener und Sklavinnen, die tun müssen, was ihnen ihr Herr befiehlt, auch wenn sie nicht wissen, wozu es gut ist. Die Jüngerinnen und Jünger Jesu sind zu Freundschaft und Liebe fähige freie Menschen, denen Jesus alles anvertraut, was er selbst von Gott erfahren hat, damit auch sie aus der göttlichen Quelle schöpfen und seine Freude teilen können.
Bleibt in meiner Liebe! fordert Jesus die Seinen auf. Wenn sie seine Gebote halten, werden sie mit ihrem Lehrer und Meister verbunden bleiben. Jesus geht aber noch weiter, wenn er ihnen aufträgt: Liebt einander, wie ich euch geliebt habe! Sie sollen nicht nur als Einzelne an seiner Liebe festhalten, sondern selbst wie Jesus handeln und untereinander – mit ihm als innerem Kompass und der heiligen Geistkraft – eine liebende Gemeinschaft bilden, die bleibende Früchte trägt. – Jesus sagt sogar einmal an einer anderen Stelle, sie könnten noch größere Taten vollbringen als er. – Im Grunde geht es um das Erwachsenwerden im Glauben und in der Liebe. Ein schmerzhafter, tiefgreifender, in seinem Endergebnis aber beglückender Prozess, bei dem sich die Jüngerinnen und Jünger mit Hilfe der Geistkraft an alles erinnern, was Jesus gesagt und getan hat. Bis sie dann bei der Verkündigung der frohen Botschaft in Wort und Tat ihre ganz eigenen Erfahrungen machen, die im Neuen Testament als Zeugnis und Inspiration für uns aufgeschrieben sind.
Werfen wir noch einen Blick auf die Liebe, die Jesus dazu gebracht hat, sein Leben für seine Freundinnen und Freunde hinzugeben. Es ist eine Liebe, welche die Menschen im Hier und Jetzt ernstnimmt, die sich nicht mit Leid, Armut und Ungerechtigkeit abfindet, die das Wohl, den Shalom aller anstrebt, die heilend und befreiend wirkt. Jesus lässt sich von Menschen berühren und berührt sie selbst. Kultische Reinheit kümmert ihn nicht, wohl aber die Reinheit des Herzens, das Handeln ohne Hintergedanken, das die Nächstenliebe nicht verzweckt, auch nicht aus heiligen Gründen. Er hilft, dass Menschen wieder in die Gemeinschaft zurückkehren und am Sabbat mit allen Gott preisen können, wie es die Tora vorschreibt. In der Begegnung mit Jesus können sich Menschen aufrichten, Handlungsfähigkeit – zurück – gewinnen und ihre Wirkmacht in der Beziehung erkennen, wenn er ihnen bestätigt: Dein Glaube hat dir geholfen.
Kein Wunder, dass Jesus das Volk für sich einnimmt, die staatliche und religiöse Obrigkeit aber, die ihre Machtstrukturen infrage gestellt und bedroht sieht, gegen sich aufbringt. Doch selbst in Leiden und Tod weicht Jesus nicht von seinem Weg der Liebe ab. Genau damit entlarvt er die Unmenschlichkeit und Ungerechtigkeit derer, die ihn verfolgt und brutal getötet haben. Seine Jüngerinnen und Jünger erkennen allmählich durch Schmerz und Zweifel hindurch den Weg der Liebe und Gerechtigkeit Jesu als Weg der Auferstehung in eine neue Wirklichkeit, eine Wirklichkeit, für die zu leben, zu lieben, zu kämpfen und zu sterben sich lohnt – auch heute.