Gottes- und Nächstenliebe – 31. Sonntag im Jahreskreis B

Erste Lesung aus dem Buch Deuteronomium, Kapitel 6
2 Wenn du den Herrn, deinen Gott, fürchtest, indem du auf alle seine Gesetze und Gebote, auf die ich dich verpflichte, dein ganzes Leben lang achtest, du, dein Sohn, – deine Tochter – und dein Enkel, wirst du lange leben.
3 Deshalb, Israel, sollst du hören und darauf achten, alles, was der Herr, unser Gott, mir gesagt hat, zu halten, damit es dir gut geht und ihr so unermesslich zahlreich werdet, wie es der Herr, der Gott deiner Väter, dir zugesagt hat, in dem Land, wo Milch und Honig fließen.
4 Höre, Israel! Jahwe, unser Gott, Jahwe ist einzig.
5 Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft.
6 Diese Worte, auf die ich dich heute verpflichte, sollen auf deinem Herzen geschrieben stehen.

Aus dem Evangelium nach Markus, Kapitel 12
28b In jener Zeit ging ein Schriftgelehrter zu Jesus hin und fragte ihn: Welches Gebot ist das erste von allen?
29 Jesus antwortete: Das erste ist: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr.
30 Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft.
31 Als zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden.
32 Da sagte der Schriftgelehrte zu ihm: Sehr gut, Meister! Ganz richtig hast du gesagt: Er allein ist der Herr, und es gibt keinen anderen außer ihm,
33 und ihn mit ganzem Herzen, ganzem Verstand und ganzer Kraft zu lieben und den Nächsten zu lieben wie sich selbst, ist weit mehr als alle Brandopfer und anderen Opfer.
34 Jesus sah, dass er mit Verständnis geantwortet hatte, und sagte zu ihm: Du bist nicht fern vom Reich Gottes. Und keiner wagte mehr, Jesus eine Frage zu stellen.

Autorin:
Walburga_2009
Walburga Rüttenauer – Rest,
Bensberg, verheiratet, drei Kinder
Grundschullehrerin, nach der Pensionierung Ausbildungskurs zum
Diakonat der Frau, diakonische und liturgische Aufgaben in der Pfarreigemeinde,

 
Die Predigt:
Gottes- und Nächstenliebe

Liebe Leserin, lieber Leser,
Zuerst eine Vorbemerkung:
Die verschiedensten Auslegungen der Bibel gehören untrennbar zur Geschichte der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus. Auf diese Weise setzt sich die Menschwerdung Gottes bis auf den heutigen Tag fort. Darum gibt es keine endgültige Auslegung der heiligen Schrift. Ja scheinbar falsche Auslegungen oder bewusstes Missverstehen der Worte Jesu zu seiner Zeit aber auch heute, gehören zu seinem Schicksal als Mensch, gehören zur Menschwerdung Gottes, die erst mit dem Ende der menschlichen Geschichte abgeschlossen sein wird.
Seit ich das verstanden habe, kann ich in jeder Art der Auslegung eine, wenn auch begrenzte Facette der Kommunikation Gottes mit den Menschen entdecken.
So haben die Menschen zu Recht in den heiligen Schriften immer Aussagen gefunden, die sich auf ihre aktuelle konkrete Lebenssituation, auf ihre individuelle Weltsicht bezogen.

Und jetzt zum Evangelium
Dem heutigen Evangelium ging folgender Satz voraus:
Ein Schriftgelehrter hatte ihrem Streit zugehört; und da er bemerkt hatte, wie treffend Jesus ihnen antwortete, ging er zu ihm hin und fragte ihn: „Welches Gebot ist das erste von allen?“
Vorhergegangen war ein Streitgespräch zwischen Jesus und den Sadduzäern um die Auferstehung. Jesu Art und Weise auf seine Gegner einzugehen, hatte den Schriftgelehrten beeindruckt, obwohl er nicht an der Diskussion aktiv teilgenommen hatte. So wagte er, Jesus eine Frage zu stellen, die ihn anscheinend schon lange bewegte.
Er ging zu ihm hin heißt es im Text, was nicht so leicht war, wenn man zur Schar der Schriftgelehrten gehörte, aber ihre Art der Schriftauslegung nicht so ganz teilen konnte.
Bis jetzt hatte er von Ferne das Gespräch verfolgt. Mit dem Schritt auf Jesus zu, machte er für alle Umstehenden sichtbar, dass er sich auf Jesu Argumentation einlassen wollte, obwohl Jesus gerade das Gespräch mit den Sadduzäern mit den Worten beendet hatte: „Ihr irrt euch sehr“.

Die Frage des Schriftgelehrten : „Welches Gebot ist das erste von allen?“ erschien mir bei ersten Lesen zunächst wie eine Provokation. Das kann keine echte Frage sein, dachte ich. Jeder fromme Jude kennt die fällige Antwort im Schlaf. Warum stellt er diese Frage?
Um Jesus zu testen auf seine Frömmigkeit, seine Rechtgläubigkeit hin?
Hinzu kommt, dass bei Matthäus (Kapitel 22, Vers 35) diese Stelle so lautet: Einer von ihnen, ein Gesetzeslehrer, wollte ihn auf die Probe stellen und fragte ihn: „Meister, welches Gebot im Gesetz ist das wichtigste?“ Hier ist die Motivation des Fragenden klar. Er will wissen, ob Jesus sich an das Gesetz hält. Er will nicht wissen, was für ihn das wichtigste Gebot ist.

Doch sowohl bei Matthäus als auch bei Markus zeigt sich Jesus nicht provoziert. Wie selbstverständlich sagt er das erste Gebot auf, das alle gläubigen Juden bis auf den heutigen Tag jeden Morgen und jeden Abend als Gebet sprechen: das bekannte Sch’ma Jisrael – Höre Israel!.
Er fügt dann aus einem anderen Buch des Ersten Testamentes, dem Buch Leviticus ( Kapitel 19, Vers 18 ), ein zweites Gebot hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.

Der Schriftgelehrte lobt Jesus wie ein Lehrer seinen Schüler, – er war eben ein Lehrer durch und durch, – und gibt ihm für seine Antwort die Note „Sehr gut“ . Doch als habe er gemerkt, dass sein Verhalten nicht stimmig ist, verleiht er Jesus den Titel „ Meister!“ Damit stellt er ihn über sich. Diese Haltung befähigt ihn, Jesu Antwort viel tiefgründiger zu verstehen, als die Schriftgelehrten es bisher gekonnt haben.

Seine Antwort lautet: „Er allein ist der Herr, und es gibt keinen anderen außer ihm, und ihn mit ganzem Herzen, ganzem Verstand und ganzer Kraft zu lieben und den Nächsten zu lieben wie sich selbst, ist weit mehr als alle Brandopfer und anderen Opfer.“
Aus der Formulierung zweier Gebote machte er eine Aussage: Weil es keinen anderen Herrn gibt außer ihm, wird man ihn lieben und den Nächsten wie sich selbst.
Die Formulierung: „Du sollst“ fällt weg und damit auch der Gesetzescharakter, den Menschen dieser Liebesaussage gegeben und damit der Liebe die unbedingt notwendige Freiheit genommen haben.
Doch dann fügt er einen Satz hinzu, der prophetische Qualität hat.
Diese Liebeszusage nämlich “ist weit mehr als alle Brandopfer und anderen Opfer.“Mit dieser Aussage zeigt der Schriftgelehrte, dass er sich in Jesus hineinversetzt hat. Er hat gefühlt, wie wichtig für Jesus diese Verbindung von Gottes und Nächstenliebe ist.
Er hat verstanden, dass diese zwei Gebote eigentlich nur ein Gebot sind. Ja noch mehr, er hat gespürt, dass dieses Gebot eine Liebeserklärung Gottes an die Menschen ist.
Diese Liebeserklärung hat Jesus Christus in seiner Menschwerdung gelebt und hat sie sterbend erfüllt.

Jesus lobt seinen Gesprächspartner, indem er sagt: „Du bist nicht fern vom Reich Gottes“. Das scheint die Umstehenden so zu beeindrucken, dass sie keine neue Frage mehr zu stellen wagen.
Was schüchtert die Zuhörer so ein?
Dass Jesus wie selbstverständlich jemandem eine Nähe zum Reich Gottes zusagt, der nicht zu seinem Jüngerkreis gehört?
Oder dass er das Gebot der Nächstenliebe mit dem Gebot der Gottesliebe verknüpft?

Das Gebot der Nächstenliebe ist nicht von Jesus erfunden worden. Es steht in der Bibel und wurde auch zu Jesu Lebzeiten oft mit dem Gebot der Gottesliebe in Zusammenhang gebracht.
Gott zu lieben, das sagt sich so leicht und ist doch so schwer.
Sowohl Jesus wie der Schriftgelehrte schmücken das Wort „lieben“ aus und stützen sich dabei auf den Text aus dem Buch Deuteronomium im Ersten Testament, den wir in der heutigen Lesung gehört haben.
Mit ganzem Herzen, ganzer Seele, mit all meinen Gedanken, mit ganzem Verstand, all meiner Kraft soll ich lieben.
Lieben beansprucht den ganzen Menschen, „mit Leib und Seele“ würde ich noch hinzufügen. Doch wie kann ich Gott so lieben?
Einen Menschen, den ich liebe, kann ich anschauen, berühren, hören, riechen, mit all meinen Sinnen erfassen, aber Gott?
Jesus als ein Mensch wie wir hat die Schwierigkeit gekannt. Darum baut er uns mit Hilfe der Nächstenliebe eine Brücke.
Wenn mir gelingt, mich in den Nächsten hineinzuversetzen, mich in seine Lage zu versetzen, bin ich Gott näher als in jedem noch so ergreifenden Gottesdienst.

Der Schriftgelehrte versetzt sich in seinen Gesprächspartner und kann so hinzufügen: Das ist „mehr als alle Brandopfer und andere Opfer“ . Mit dieser Aussage riskiert der Schriftgelehrte, sich der Feindschaft der gesamten Priesterkaste auszusetzen, denn jeder Opferkult hat damit seine besondere Bedeutung verloren. Es ist dieser Nachsatz des Schriftgelehrten, der Jesus dazu bewegt zu sagen: „Du bist nicht fern vom Reich Gottes.“

Ein Nachtrag
Und unser Gottesdienst, in welcher Nachfolge steht er? Opfer oder Nächstenliebe?
Kult oder Diakonie?
Unsere Amtskirche hat sich im Laufe der Zeit immer mehr in die Nachfolge der jüdischen Tempelliturgie begeben. Alle fünf Kirchengebote zielen auf die Ausübung des Kultes. Kein Kirchengebot hat die Nächstenliebe zum Thema.
Während in der frühen Kirche die Feier des eucharistischen Mahles eng verbunden war mit der Speisung der Armen und dafür ein eigenes Amt, der Diakon, einführt wurde, besteht der Dienst des heutigen Diakons vor allem in liturgischen Aufgaben.
Auch die Kollekte in der Messe, in der das Kleingeld der Gläubigen in ein Opferkörbchen(!) geschüttet wird, ist eher ein kultisches Symbol mit opferähnlichem Charakter anstatt die eigentlich erwartete Nächstenliebe.
Als symbolische Erinnerung an das Gebot der Nächstenliebe mag die Kollekte ihren sinnvollen Platz in der Eucharistiefeier haben, aber es sollte immer wieder darauf hingewiesen werden, dass damit nicht das Gebot der Nächstenliebe erfüllt ist. Schließlich wird das Kollektengeld wird nur selten für einen diakonischen Zweck verwandt.
Ähnliches gilt für die Kirchensteuer. Sie ist eher ein Mitgliedsbeitrag und wäre nur gerechtfertigt, wenn sie überwiegend im Sinne der konkreten Nächstenliebe ausgegeben würde und nicht mit der Erwartung auf bestimmte Dienstleistungen.
Wir sind noch weit entfernt vom Reich Gottes, wie Jesus es verstand.

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4 Antworten auf Gottes- und Nächstenliebe – 31. Sonntag im Jahreskreis B

  1. Wolfgang Schulte Berge sagt:

    Sehr verehrte Frau Rüttenauer,

    Ihre Predigt ist für mich ein kostbares Geschenk, weil sie das Mehr Jesu gegenüber jüdischem Denken so plastisch vor Augen führt. Tiefen Dank !

    Wolfgang Schulte Berge, Pfr.em.

  2. Kähny sagt:

    „…die Frauen sollen in der Versammlung schweigen !…“( 1 Kor 11).

    Mit der heutigen Frauen-Predigt ( Gottes-Nächstenliebe,Frau Rüttenauer-Rest /3.11.12) hört die männlich-jüdisch-katholische Theologie auf weh zu tun.

    KH.Kähny

    • Birgit Droesser sagt:

      Sehr geehrter Herr Kähny,
      was wollen Sie eigentlich sagen? Geht es Ihnen um Polemik? Ich behalte mir vor, Kommentare, die sich auf kein Argument stützen und sich weder auf die Schrifttexte, noch auf die Predigt beziehen, zu löschen.

      • Kähny sagt:

        Nein, Frau Droesser,d e r Kommentar (3.11.12) soll nicht verletzen-
        im Gegenteil:
        2000 Jahre hat die männlich-jüdisch-katholische Tradition
        „die weibliche Seite “ SEINER Kirche ausgeblendet (u.a.mit Hilfe 1 kor 11,ff):

        nicht erst heute ,vielmehr seit mehreren Generationen vollzieht sich in der katholischen Kirche (Deutschlands (?)) der stille Exodus der Frauen.Und das tut weh…
        Internet und „Frauenpredigten“ zeigen- endlich- wie diese Not gewendet werden kann.
        KH.Kähny

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