Sehen und entscheiden – 30. Sonntag im Jahreskreis B

Übersetzung der „Bibel in gerechter Sprache“
Erste Lesung aus dem Buch Jeremia, Kapitel 31
7 Ja, so sagt „Gott“: Freudig jubelt Jakob zu, jauchzt mit dem Ersten der Nationen, jubelt und lasst hören: „Gott“ hat dein Volk gerettet, den Rest Israels.
8 Seht, ich bringe sie aus dem Nordland, ich sammle sie von den Enden der Erde. Unter ihnen sind Blinde und Lahme, Schwangere und Wöchnerinnen. Als große Gemeinde kehren sie hierher zurück.
9 Unter Weinen kommen sie, mit Erbarmen geleite ich sie. Ich führe sie an Wasserbäche und auf geraden Wegen, wo sie nicht stürzen. Denn ich wurde Israel zum Vater und Efraim – er ist mein Erstgeborener.

Aus dem Evangelium nach Markus, Kapitel 10
46 Sie kamen nach Jericho.
Als Jesus mit seinen Jüngerinnen und Jüngern und einer großen Menge Volk wieder aus Jericho wegzog, saß am Weg Bartimäus, der Sohn des Timäus, ein blinder Bettler.
47 Als er hörte, es sei Jesus von Nazaret, begann er laut zu schreien: „Nachkomme Davids, Jesus, erbarme dich meiner!“
48 Viele herrschten ihn an, er solle den Mund halten. Doch da schrie er noch viel lauter: “Nachkomme Davids, erbarme dich meiner!“
49 Abrupt blieb Jesus stehen und sagte:“ Ruft ihn her.“ Sie riefen den Blinden und sagten zu ihm: „Sei guten Mutes, steh auf, er lässt dich rufen.“
50 Er warf sein Obergewand weg, sprang auf seine Füße, kam zu Jesus,
51 und Jesus fragte ihn: „Was soll ich für dich tun?“ Der Blinde antwortete: “Mein Rabbi, mach, dass ich sehen kann.“
52 Jesus daraufhin: “Geh, dein Vertrauen hat dich gesund gemacht.“
Mit einem Mal konnte er sehen. Und auch er zog mit Jesus davon.

 

Autorin:
scale-210-210-12_25508028_2Maria Sinz, Gemeindereferentin, Aalen, stellvertretende geistliche Leiterin der KAB (Katholische Arbeitnehmerbewegung)

Die Predigt:
Sehen und entscheiden

Liebe Leserin. lieber Leser,
Wenn Michi, von etwas begeistert ist sagt er: “Ja das muss man gesehen haben.“
Das Besondere dabei ist, Michi ist von Geburt an blind und dennoch nutzt er selbstverständlich diese Redewendung und meint sie auch so.
Michi lässt mich zögern, irgendetwas über Blindsein zu behaupten und er ist ein vortreffliches Beispiel dafür, dass es bei Lebensperspektive mehr um Grundvertrauen als um Wiedererlangen optischer Sehkraft geht.

Mit dieser Vorbemerkung wenden wir uns jetzt dem Text zu:
und auch Bartimäus, der blinde Bettler, der wieder sehen konnte, zog mit Jesus davon.
Mit Jesus und der großen Menge Volk, von dem es bei Jeremia heißt:
ich sammle sie von den Enden der Erde. Unter ihnen sind Blinde und Lahme, Schwangere und Wöchnerinnen….Unter Weinen kommen sie, mit Erbarmen geleite ich sie…
Miteinander gehen sie hinauf nach Jerusalem.
Bartimäus, der wieder etwas erblicken kann, wie eine andere Übersetzung sagt, gesellt sich zur Gefolgschaft Jesu. Er geht den Weg mit, wie unzählige andere. In Jesus findet ihr Leben eine Ausrichtung, die nicht hinterfragt wird. Sie gehen einfach mit. Für mich ist die Frage, was ist es, das sie bei Jesus finden?

Bartimäus hat um Erbarmen gerufen und Zuwendung bekommen. Jesus fragt: was soll ich für dich tun? und demonstriert damit seiner Anhängerschaft, wie er dienende Autorität versteht; um herrschen und dienen ging unmittelbar vorher die Auseinandersetzung. Bartimäus also rief beharrlich um Erbarmen und hat damit ins Schwarze getroffen: abrupt blieb Jesus stehen.

Erbarmen kann mit: mütterlich empfinden übersetzt werden und mit: willentlicher Anerkennung der Vaterschaft. Mit Erbarmen Gottes drückt das Hebräische Lebenssicherung und Schutz aus, jemand wird in lebenssichernde Verhältnisse eingesetzt. An anderer Stelle kann es bedeuten: jemand wird aus Mitleid verschont. Beides Mal geht es um Liebe, die sich von Gott zu den Menschen erstreckt. Um jene Liebe, die wie die Liebe der Eltern unumkehrbar in eine Richtung geht, von den Eltern zum Kind. Ein Anrecht, das Menschen qua Geburt haben, Fürsorge, die geschenkt ist.

Auf den Ruf nach Erbarmen reagiert Jesus. Für den Moment ist Bartimäus wichtig. Jesus lässt sich aufhalten auf dem Weg, hinauf, nach Jerusalem. Natürlich lässt er sich aufhalten, vom Bettler, wie von vielen, die in der Gesellschaft keinen Platz haben. Und hier spüren die Menschen in Jesus den Gott, von dem wir sagen er rufe das Nichtseiende ins Dasein. Jesus schenkt Bartimäus seine volle Aufmerksamkeit. Nach meiner Auffassung ist es eine Begegnung auf Augenhöhe. Was willst Du dass ich dir tue? höre ich kraftvoll direkt an den anderen gerichtet. Hier geht es weniger um helfen, mehr um begegnen. Für Jesus ist es gar keine Frage, dass er dem blinden Bettler respektvoll begegnet. Hier wird eine Reich – Gottes – Qualität ins Leben gerufen. Es macht einen gewaltigen Unterschied, ob ich den blinden Bettler an der Straße nach sozialem Status – oft als lästig – einsortiere, oder ihm als Menschen begegne, und dabei erfahre, dass ich in vielen Lebensaspekten eben auch nur eine Bettlerin bin. Lange Zeit konnte ich diese Erfahrung nicht verbinden mit dem sozialen Engagement für eine bessere, gerechtere Welt. Inzwischen denke ich, es braucht die Fähigkeit, sich selber so ehrlich sehen zu können, um mit versöhntem Herzen für eine Welt zu kämpfen, in der Menschen nicht mehr zu Bettlern gemacht werden.

Sehen hat für mich weniger mit optischer Sehkraft zu tun als mit Entscheidung. Es ist meine Entscheidung, was ich sehe: einen Menschen mit Defiziten, oder ein Antlitz, das mich anruft, ein Gegenüber, das vom Lebensumfeld gezeichnet sein mag, im Wesentlichen aber immer mir gleich ist. Diese Sichtweise kann ich schon heute üben, im Vertrauen auf Gott.
Ich entscheide, der Sicht Gottes Gewicht zu geben, hier und heute. Das jedenfalls, so erzählt Markus, tat Bartimäus: du kannst mich sehend machen. Ich mag nicht darüber spekulieren was er ab da tatsächlich wieder sehen konnte, entscheidend ist: dein Vertrauen hat dich gesund gemacht. Vertraut dem Evangelium. Traut dieser Botschaft und wir können unser Leben und die Welt gestalten. So wie Gott sagt:… mit Erbarmen geleite ich sie und führe sie an Wasserbäche und auf geraden Wegen, wo sie nicht stürzen.

Beim Blick auf das Gesamte der Szenerie – Jesus und eine Menge Volk auf dem Weg hinauf nach Jerusalem – geschieht noch was anderes:
In meinen Augen ist die große Menge Volk, die mit Jesus nach Jerusalem hinaufzieht, das Geleit Gottes für seinen Sohn. Gott lässt ihren Sohn nicht allein.
Die Menschen, die mit Jesus nach Jerusalem hinauf gehen spüren, dass sie Teil von einem größeren Ganzen sind. Daraus erwächst Lebenssinn. Auch heute.
Amen.

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