Verletzlich wie ein Liebender – Karfreitag 2022

Aus der Passion nach Johannes, Kapitel 18 und 19
19,25 Bei dem Kreuz standen seine (Jesu) Mutter und die Schwester seiner Mutter, Maria, die Frau des Klopas, und Maria von Magdala.
26 Als Jesus die Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er liebte, sagte er zur Mutter: Frau, siehe, dein Sohn!
27 Dann sagte er zu dem Jünger: Siehe, deine Mutter! Und von jener Stunde an nahm sie der Jünger zu sich.
28 Danach, als Jesus wusste, dass nun alles vollbracht war, sagte er, damit sich die Schrift erfüllte: Mich dürstet.
29 Ein Gefäß mit Essig stand da. Sie steckten einen Schwamm voll Essig auf einen Ysopzweig und hielten ihn an seinen Mund.
30 Als Jesus von dem Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht! Und er neigte das Haupt und gab seinen Geist auf.
31 Weil Rüsttag war und die Körper während des Sabbats nicht am Kreuz bleiben sollten – der Sabbat war nämlich ein großer Feiertag -, baten die Juden Pilatus, man möge ihnen die Beine zerschlagen und sie dann abnehmen.
32 Also kamen die Soldaten und zerschlugen dem ersten die Beine, dann dem andern, der mit ihm gekreuzigt worden war.
33 Als sie aber zu Jesus kamen und sahen, dass er schon tot war, zerschlugen sie ihm die Beine nicht,
34 sondern einer der Soldaten stieß mit der Lanze in seine Seite und sogleich floss Blut und Wasser heraus.
35 Und der, der es gesehen hat, hat es bezeugt, und sein Zeugnis ist wahr. Und er weiß, dass er Wahres sagt, damit auch ihr glaubt.

Autorin:
Elisabeth Schmitter Elisabeth Schmitter, Pastoralreferentin a.D. der Diözese Rottenburg-Stuttgart, spricht in Verkündigungssendungen des SWR

 
Die Predigt:
Verletzlich wie ein Liebender

Liebe Brüder und Schwestern,
Karfreitag ist der seltsamste Feiertag, den man sich vorstellen kann. Ein Tag des Schmerzes, des Todes, der Trauer. Was gibt es da zu feiern? Zu bekennen, dass in einem Menschen Gott selbst zum Tod verurteilt und hingerichtet wird – in anderen Religionen wäre das schlichtweg Unsinn, ein Skandal oder geradezu eine Gotteslästerung. Und auch für uns als Christen ist diese Vorstellung un-glaublich, kaum zu glauben, und schon gar nicht zu fassen.

Gott – muss das nicht das Große, Mächtige, Unsterbliche sein, nach dem sich Menschen zu allen Zeiten sehnen? Den Ängsten und Gefahren des Lebens ausgeliefert sind sie ja selbst, und spüren es jeden Tag überdeutlich. Von einem Gott muss man doch erwarten, dass er darüber steht.

Aber der Gott, den die Bibel bekennt, will gar nicht darüber stehen. Er sucht nicht Abstand, sondern Nähe; er will nicht unsere Opfer, sondern unsere Liebe. Wie ein unglücklich Liebender umwirbt er die Menschen, und wie ein unglücklich Liebender wird er verschmäht. Die Worte, die Gott seinen Propheten in den Mund legt, sie klingen wie Liebesgedichte, voll Sehnsucht, voll Schmerz, voll Hoffnung, dass die Liebe irgendwann doch noch erwidert wird.

Liebende kommen manchmal auf verrückte Ideen, um zu zeigen, wie ernst es ihnen ist. Der Gott der Liebe wird ein Mensch unter Menschen, so sehr sehnt er sich danach, ihnen nahe zu sein. Der Abstand zwischen dem ewigen Gott und den sterblichen Menschen, er mag noch so groß sein, in der Liebe kommen sie gleichsam auf Augenhöhe: Der starke Gott macht sich verletzlich wie ein Liebender, bedürftig wie ein Geschöpf, sterblich wie ein Mensch.

Am Kreuz von Golgota scheint der Versuch Gottes, die Liebe der Menschen zu erringen, grausam gescheitert zu sein. Aber Gott wäre eben nicht Gott, wenn er sich von irgendeiner Macht – und sei es der Tod selbst – vorschreiben ließe, wo sein Liebe zu enden hat.

Das uralte Machtspiel zwischen Liebe und Tod, am Karfreitag wurde es entschieden. Ein für allemal. Nicht, dass es seither keine Kreuze mehr gäbe, es gibt sie, Gott sei’s geklagt, tausendfach… Am Ende aber wird die Liebe bleiben. Die Kreuze und Kreuzwege der Menschen mit all ihrem Grauen, sie können nie mehr herausfallen aus dieser Liebe, die es selbst mit dem Tod aufgenommen hat.

Karfreitag ist der seltsamste Feiertag, den man sich vorstellen kann. Weil er alles auf den Kopf stellt, was Menschen von Gott zu wissen meinen. Nein, verstehen können wir ihn nicht, diesen Gott der Liebe. Aber glauben können wir ihm.

Amen.

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