Eine Ahnung, wie es sein könnte, als Trost für die Gegenwart – 6. Sonntag der Osterzeit C

Zweite Lesung aus der Offenbarung des Johannes, Kapitel 21
10 Ein Engel entrückte mich im Geist auf einen großen, hohen Berg und zeigte mir die heilige Stadt Jerusalem, wie sie von Gott her aus dem Himmel herabkam,
11 erfüllt von der Herrlichkeit Gottes. Sie glänzte wie ein kostbarer Edelstein, wie ein kristallklarer Jaspis.
12 Die Stadt hat eine große und hohe Mauer mit zwölf Toren und zwölf Engeln darauf. Auf die Tore sind Namen geschrieben: die Namen der zwölf Stämme der Söhne Israels.
13 Im Osten hat die Stadt drei Tore und im Norden drei Tore und im Süden drei Tore und im Westen drei Tore.
14 Die Mauer der Stadt hat zwölf Grundsteine; auf ihnen stehen die zwölf Namen der zwölf Apostel des Lammes.
22 Einen Tempel sah ich nicht in der Stadt. Denn der Herr, ihr Gott, der Herrscher über die ganze Schöpfung, ist ihr Tempel, er und das Lamm.
23 Die Stadt braucht weder Sonne noch Mond, die ihr leuchten. Denn die Herrlichkeit Gottes erleuchtet sie und ihre Leuchte ist das Lamm.

Autorin:
Dr. Ulrike Altlherr Dr. Ulrike Altherr, Pastoralreferentin in Herrenberg

 
Die Predigt:
Eine Ahnung, wie es sein könnte, als Trost für die Gegenwart

Liebe Leserin, lieber Leser,

Traumstädte
besuchen Sie gerne Städte? Was ist ihre Traumstadt? Paris oder New York, Shanghai oder Petersburg, Rom oder Jerusalem? An Städten bewundern wir prächtige Gebäude, eine schöne Lage, gute Infrastruktur, Kultur und Kunst, schönes Flair. Meist besuchen wir die Städte nur im Urlaub, wenn wir da leben sehen wir auch ihre Schattenseiten. Und doch faszinieren uns Städte.

Das himmlische Jerusalem
Den Seher der Offenbarung des Johannes fasziniert auch eine Stadt, aber nicht Jerusalem, so wie es zu seiner Zeit war, sondern ein neues ein Traumjerusalem, wie es von Gott her aus dem Himmel herabkommt, ohne all die Makel, die eine reale Stadt hat. Mit der Vision vom himmlischen Jerusalem ist etwas in der Welt, das seither viele Menschen inspiriert hat, auch viele Künstlerinnen und Künstler.
In der Lesung haben wir gehört, wie der Seher Johannes es beschreibt: Das himmlische Jerusalem hat eine quadratische Stadtmauer mit zwölf Toren; sie ist gewaltig groß, 144 Ellen hoch, 12000 Stadien lang; das Fundament besteht aus zwölf verschiedenen Edelsteinen, die Tore aus zwölf Perlen, die Straßen sind aus Gold; in ihrer Mitte befindet sich der Thron Gottes und des Lammes, unter dem der Strom des Lebens hervorquillt, die Bäume des Lebens gedeihen am Ufer dieses Stroms. Die ganze Stadt ist vom göttlichen Glanz durchflutet!

Das himmlische Jerusalem in der Kunst
In vielen Kirchen ist eine Darstellung des himmlischen Jerusalem zu finden: mal als Tabernakel, mal als Fenster, als Bild oder Mosaik oder Leuchter, als Buchdruck oder Textil. Bei uns in Herrenberg ist es das große Glasfenster im Chor, geschaffen von Albert Blickle, das Christus im himmlischen Jerusalem darstellt. Wenn das Morgenlicht durchscheint, leuchtet der Christus in der Mitte in allen Farben.

Über sich hinausschauen?
Diese neue Stadt ist das Sinnbild für die ewige Gemeinschaft mit Gott, ein Sehnsuchtsort ohne Mühsal und Leid. Auf dieses Ziel geht jeder Christ, jeder Mensch, die ganze Kirche zu – das zeigt uns die Kunst und in jedem Gottesdienst will die Vollendung feiernd vorweggenommen werden.
Doch können die Menschen das heute noch wahrnehmen? Können sie über sich hinausschauen? Brauchen sie überhaupt noch einen solchen Ausblick, eine Endzeitvision? Eigentlich genügen sie sich ja selbst, die Dinge dieser Welt nehmen sie völlig in Beschlag. Der moderne Mensch schaut nicht zum Himmel, er schaut nach unten … auf sein Handy, er ist völlig auf seinen Bildschirm fixiert. Er hat oftmals nicht das Bedürfnis, über sich hinauszuschauen, er genügt sich selbst, ist in seiner Welt gefangen! Ist geprägt vom Alltag, von Sachzwängen, von der Tretmühle des Lebens, vom ich muss doch, weil es schon immer so war. Ich kann doch nichts ändern. Viele sehen nur ihre eigenen Interessen oder die der eigenen Nation.

Menschen, die über sich hinausschauen
Die Vision vom himmlischen Jerusalem, der Ausblick auf die Vollendung der Welt – kann sie heutige Menschen überhaupt noch ansprechen? Tief ins Diesseits, in Eigeninteressen, in Besitz- und Machtinteressen verkrallt, auch in der Kirche, sind wir Menschen dabei unser Ziel aus den Augen zu verlieren? Ja, ich glaube wir sind heute dabei viele wichtige Ziele aus den Augen zu verlieren.
Die jugendlichen von fridays for future erinnern daran, dass es wirklich für unser Klima 5 vor 12 ist, dass wir durch unseren Lebensstil, die Zukunft der nächsten Generationen auf Spiel setzen. Ich glaube, wir müssen wirklich dingend etwas tun. So kann es nicht weitergehen.

Auch in der Kirche kann es nicht so weitergehen. Das zeigen uns die Frauen der Aktion Maria 2.0. Es genügt nicht mehr, ein bisschen Reformen zu machen, sondern es braucht substantielle Änderungen. „Frauen nehmen‘s in die Hand. Kirchenstreik im ganzen Land. Fraun in alle Ämter. Fraun in alle Ämter.“ haben Frauen beim Flashmob letzte Woche in Tübingen gesungen. Ich weiß nicht, ob es damit getan wäre. Vielleicht müsste Kirche ganz anders werden – alles auf Anfang, jesuanischer… Leider habe ich kein Rezept dafür, nur eine Ahnung und eine Sehnsucht, wie es sein könnte.

Ich denke, es geht darum, sich nicht an die Welt und Kirche, wie sie ist, zu verlieren, sondern über sie und sich hinauszusehen.

Die damaligen Hörerinnen und Hörer der Botschaft des Johannes
Auch die Christen gegen Ende des 1. Jahrhunderts, für die diese Vision aufgeschrieben wurde, waren in einer Krise und dabei, ihren Glauben aufzugeben. Es waren Christen in Kleinasien, der heutigen Türkei. Viele der christlichen Gemeinden hatte Paulus gegründet, inzwischen waren sie missionarisch sehr erfolgreich, denn die neue Religion war für die Menschen anziehend. Doch sie kamen in Konflikt mit dem römischen Herrscherkult: der Kaiser sollte als Gott verehrt werden. Für die Christen war das unmöglich, sie fallen nur vor ihrem Gott auf die Knie. Doch wer dem Kaiser nicht huldigte, musste mit Nachteilen rechnen. Die Christen gerieten mehr und mehr in Bedrängnis. Verfolgung und womöglich der Tod drohte ihnen. So manch einer kam ins Wanken: Die Prachtentfaltung und die Macht der Römer war verführerisch. Wer sich anpasste, konnte einigermaßen gut leben. Und dann die Frage: Ist Gott wirklich der Herrscher der Welt? Man merkt so wenig davon.

Die Christen waren dabei, ihren Glauben, ihre Hoffnung, ihr Ziel aus den Augen zu verlieren. In dieser Situation stellte ihnen der Seher Johannes in seiner Offenbarung, dem letzten Buch der Bibel, die großartige Vision vom himmlischen Jerusalem vor Augen.

Vision für bedrängte Christen
„Das himmlische Jerusalem, das ist das Ziel, auf das wir zugehen – nein, das ist das Ziel, das auf uns zukommt“, sagt Johannes, „Darum täuscht euch nicht. Die Weltmacht Rom, die sich so prachtvoll verführerisch gebärdet und uns doch zerstörerisch umschlingt, sie wird dem Gericht verfallen, denn Gott ist der wahre Herrscher der Welt!“ Gott, ist alles. Es braucht keinen Tempel in dieser Stadt Gottes, auch keine Sonne und keinen Mond. Er selbst und das Lamm Jesus Christus erleuchten diese Stadt und haben die alleinige Macht. Damit hatten Christen damals der Welt etwas entgegenzusetzen.

Gilt das nicht ganz ähnlich auch für uns heute? „Lasst euch von der Welt nicht täuschen, sie ist nicht das Einzige und Letzte“, könnte Johannes uns heute sagen. „Etwas, das größer ist als die Welt, etwas, das Menschen nicht machen können, kommt auf uns zu! Nennen wir es „das himmlische Jerusalem“, nennen wir es „das umfassende Heil von Gott“ oder „Reich Gottes“ – es ist das Ziel der Welt, das ist euer Ziel. Schaut doch über euch hinaus!“

Über sich hinaussehen
Ja über sich selbst hinausschauen, das lehren uns auch die jungen Menschen der fridays for future und die Frauen von Maria 2.0., über das Vorfindliche und Mögliche hinausschauen und das scheinbar Unmögliche fordern. Gutes Leben für alle, um so etwas wie Heil geht es, um etwas Himmlisches.

Wie reagieren die Menschen heute? Viele meinen: Es gibt nichts über diese Welt hinaus. Ich muss mitmachen und so viel wie möglich davon profitieren. Andere dagegen: „Ich möchte ja glauben, dass da mehr ist. Die Welt genügt mir nicht, aber ich kann nicht glauben. Vielleicht kann ich mich irgendwann auf Gott einlassen.“ Besonders für diese Suchenden, für diese Menschen mit einer Sehnsucht muss die Kirche da sein, müssen wir als ihre Mitglieder und Mitarbeiterinnen da sein.

Wer, wenn nicht die Kirche, kann der Welt den Himmel offenhalten? Ihre Aufgabe ist es Suchende, zu begleiten, Satte aufzurütteln, Fromme zu ermutigen und auf den Himmel hinzuweisen, vielleicht sogar allen eine Spur zum Himmel zu legen. Das kann sie nur, das können wir nur, wenn wir neu werden ganz neu, ohne an Macht zu kleben, ohne Angst um uns selbst zu haben.

Gott kommt entgegen
Wer mich liebt, wird meine Gebote halten heißt es von Jesus im Johannesevangelium. Liebe ist das erste. Sie befreit von Angst und macht fähig nicht den Buchstaben, sondern den Sinn der Gebote zu erfüllen. Liebe heißt auch, dass wir nicht alles selbst leisten müssen, sondern etwas geschenkt bekommen. Und aus diesem Geschenkten heraus können wir aktiv werden, z. B. fürs Klima und für die Erneuerung der Kirche.

Das himmlische Jerusalem kommt von Gott her aus dem Himmel herab auf die Erde, erfüllt von Gottes Herrlichkeit, verkündet uns der Seher Johannes – was für ein wunderbarer Ausblick!
Gott kommt uns entgegen. Lassen wir uns von diesem Ausblick trösten und neue Hoffnung geben.
Amen.
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Vieles für diese Predigt ist entnommen aus MONIKA KETTENHOFEN, 6. Sonntag der Osterzeit, in: Gottes Volk LJC 4/2019, S. 98-110.

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