In der Begegnung mit Jesus sich selbst und die anderen neu sehen lernen – 30. Sonntag im Jahreskreis B / Weltmissionssonntag

Aus dem Evangelium nach Markus, Kapitel 10
46 Sie kamen nach Jericho. Als Jesus mit seinen Jüngerinnen und Jüngern und einer großen Menschenmenge Jericho wieder verließ, saß an der Straße ein blinder Bettler, Bartimäus, der Sohn des Timäus.
47 Sobald er hörte, dass es Jesus von Nazaret war, rief er laut: Sohn Davids, Jesus, hab Erbarmen mit mir!
48 Viele wurden ärgerlich und befahlen ihm zu schweigen. Er aber schrie noch viel lauter: Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir!
49 Jesus blieb stehen und sagte: Ruft ihn her! Sie riefen den Blinden und sagten zu ihm: Hab nur Mut, steh auf, er ruft dich.
50 Da warf er seinen Mantel weg, sprang auf und lief auf Jesus zu.
51 Und Jesus fragte ihn: Was soll ich dir tun? Der Blinde antwortete: Rabbuni, ich möchte wieder sehen können.
52 Da sagte Jesus zu ihm: Geh! Dein Glaube hat dir geholfen. Im gleichen Augenblick konnte er wieder sehen, und er folgte Jesus auf seinem Weg.

Autorin:
Utta-Hahn-2-150x150Utta Hahn, Gemeindereferentin, Landpastoral Schönenberg in Ellwangen

 
Die Predigt:
In der Begegnung mit Jesus sich selbst und die anderen neu sehen lernen

Liebe Leserin, lieber Leser,
versuchen Sie einmal, sich in die „große Menschenmenge“ nach Jericho hineinzudenken. Wer war das alles? Jericho war eine ansehnliche Stadt, nur eine Tagesreise von Jerusalem entfernt, Handelsplatz, Heimat vieler Menschen, Station vieler Reisender auf dem Weg nach Jerusalem. Jesus hatte also eine Menge Leute, die ihm folgten und zuhörten, – ob sie alle mit ihm weiterziehen würden? Ob sie alle jetzt mit ihm nach Jerusalem gehen wollten?

Wie viele von ihnen glaubten wohl, den Messias vor sich zu haben, von dem die Schriften und die Propheten erzählten; der Messias, der Freiheit von allen Besatzern und Frieden für das Volk Israel bringen würde. Sie hatten gesehen, wie Jesus völlig frei und unabhängig mit allen umgehen konnte – mit den Römern genauso wie mit den religiösen Führern des Volkes. Wie einen Star konnten man ihn bewundern und die Geschichten von ihm machten die Runde. In seiner Nähe passierte Wichtiges und wer dabei war, der konnte nachher auch tolle Geschichten erzählen und sagen: Ich war dabei, als Bedeutendes passiert ist.

Wie viele folgten ihm wohl, weil er anders redete, als die, die das Sagen hatten, weil er Wunder tat, die das Leben in ganz neuem Licht erstrahlen ließen, weil er viele Menschen heilte. Viele hatten gesehen, wie er sich jedem zuwandte, sich Zeit nahm, für jede Frage und jeden Suchenden, wie er Kinder liebevoll behandelte und jene in die Mitte holte und anschaute, die sonst nie angeschaut wurden – die Witwen, die Kranken, die Sünder, diejenigen, die als unrein galten.

Es gab wohl auch welche, die ihm schon Wochen, Monate gefolgt waren, die ihren Alltag hinter sich gelassen hatten, weil sie auf große Veränderungen hofften und mittendrin sein wollten, weil alles besser war, als der mühselige arbeitsreiche Alltag.

Und es gab sicher viele, die aufgrund der Begegnung mit Jesus ihr eigenes Leben neu entdeckt hatten und neu sehen konnten – heil und ganz. Sie folgten ihm, weil er sie in ihrem Innersten berührt hatte, weil sich für sie mit der Begegnung mit Jesus ein neuer Horizont in ihrem Leben geöffnet hatte, weil sie Mensch werden konnten und frei und sich geliebt fühlen konnten, weil sie Beziehung auf ganz besondere Weise erfahren haben und diese Art von Beziehung auch untereinander leben wollten und konnten. Sie folgten ihm, weil er sie gerufen hatte. Sie folgten ihm, weil sie glaubten – an das Leben, an eine frohmachende Botschaft, an eine beglückende Gottesbeziehung, an gelingende Beziehungen.

So vielgestaltig könnte die Menschenmenge sich zusammengesetzt haben, von der Markus im Evangelium sagt, sie sei mit Jesus und seinen Jüngerinnen und Jüngern auf dem Weg aus der Stadt hinaus gewesen. Kein Wunder, dass es dann auch ganz verschiedene Reaktionen auf diesen Bettler Bartimäus gab, der versuchte, sich Gehör zu verschaffen.

Viele wurden ärgerlich und befahlen ihm zu schweigen.
Sind das nicht jene, die sich mitten in dem großen Moment der Geschichte wähnen und dabei sein wollen, nichts verpassen wollen, von der Größe der Person und der Wichtigkeit der Situation überzeugt. Da kann ein jammernder oder schreiender Bettler doch nur aufhalten und ablenken – da stört so jemand den großen Lauf der Geschichte. Da kann man schon ärgerlich werden. Jene, für die ein Star gefeiert werden muss, und „wo alles gerade so schön ist“ – da stört die Erinnerung an die Unvollkommenheit des Menschen (ein Blinder) und der Gesellschaft (es gibt Bettler) doch sehr.

Sie riefen den Blinden und sagten zu ihm: Hab nur Mut, steh auf, er ruft dich.
Sind das nicht jene, die bei jedem Wunder Jesu von neuem staunen können und sich freuen, die im Heil, das dem anderen widerfahren kann, auch das Gute sehen, das für alle daraus erwächst? Jene, die vielleicht selbst erfahren haben, was daraus wird, wenn Jesus einen Menschen ruft? Jene, die gelernt haben, dass es nichts Wichtigeres gibt, als die Zuwendung zu denen, die um Hilfe bitten? Jene, die die Mitmenschen achten gelernt haben – auch wenn deren Lebenssituation ganz fremd und ganz anders als die eigene ist? Wohlwollend sprechen sie dem Bartimäus Mut zu, unterstützen mit ihren Worten und der Bereitschaft, ihn bis zu Jesus zu begleiten.

Und Jesus? Was bewegte ihn?
Er blieb trotz der vielen Menschen und des vermutlich großen Stimmengewirrs und Lärms um sich herum sehr hellhörig und aufmerksam im Blick auf die Not dessen, der ihn suchte, so dass er den Ruf des Bettlers hörte und die Begegnung ermöglichte. Vielleicht auch erst, als er merkte, wie einige Menschen diesen Rufer zum Schweigen bringen wollten, aber letztendlich nahm er sich die Zeit, wich ab von den offensichtlichen Plänen (jetzt aus der Stadt hinauszugehen) und wandte sich dem Menschen ganz zu, wie er es in jeder Begegnung tat.

Und Jesus fragte ihn: Was soll ich dir tun?
Die Begegnung selbst schildert der Evangelist so einfach und klar: Ungeachtet des Offensichtlichen, Armut und Blindheit, kommt Jesus mit Bartimäus ins Gespräch und nimmt ihn wahr als Menschen, der eigenverantwortlich handelt. Der Ausdruck: „sich auf Augenhöhe begegnen“ trifft das vielleicht in doppeltem Sinn richtig: Jesu achtsamer und respektvoller Umgang einerseits und das Aufgerichtetsein und selbstbestimmte Auftreten des blinden Mannes andererseits. Sie begegnen sich „auf Augenhöhe“.

Der Blinde antwortete: Rabbuni, ich möchte wieder sehen können.
Sehen, verstehen, Licht wahrnehmen, die Umwelt wahrnehmen, die Menschen um mich herum wahrnehmen, das Leben spüren, Licht in meinem Leben haben, Hoffnung haben, Ziele vor Augen haben, erkennen, unterscheiden können, lieben können… Ich möchte wieder sehen können – das kann uns in viele Schichten unseres Daseins führen und kann Ausdruck tiefer Verzweiflung und Sehnsucht nach Heil sein.

Und genau darauf kann Jesus antworten. Das ist der Kern seiner Botschaft, dass Menschen HEIL werden können in der Begegnung mit ihm, in der Begegnung mit Gott, im Vertrauen und Glauben.

Bei solcher Betrachtung kommen mir unweigerlich Parallelen zu unserer Situation in Europa im Zusammenhang mit den Menschen auf der Flucht in den Sinn. Wie gehen wir miteinander um? Das Evangelium ist eine Einladung, den Hilfesuchenden Mut zu machen, unterstützend zu begleiten, damit echte Begegnung sich entfalten kann. Es ist die Einladung, einander auf Augenhöhe zu begegnen, sei es, dass wir angefragt werden oder sei es, dass wir um Hilfe bitten.

Es ist die Einladung, uns selbst zu lieben und zu achten, um zu spüren und zu wissen, was wir brauchen und dies auch ausdrücken zu können. Und die Einladung, wie Bartimäus, nach unseren tiefsten Wünschen und Hoffnungen im Leben zu suchen und diese mit aller Kraft und Hoffnung in die vertrauensvolle Beziehung zu Gott hineinzulegen.

Heute ist Weltmissionssonntag. Missio stellt dieses Jahr Tansania und das Leben und den Glauben der Menschen dort in den Mittelpunkt. Ordensschwestern, die das Nomadenvolk der Massai begleiten und dort tagtäglich sich den Menschen – besonders den Frauen – zuwenden und sie begleiten, ihr Leben in Würde und Achtung zu leben. Das Evangelium heute zeigt uns, wie wir Mission immer wieder neu buchstabieren und in unsere Zeit übersetzen können. Es zeigt einen Weg auf, was Jesus mit seinem Auftrag meinte: Lehrt alle, was ich euch aufgetragen habe, zu tun (Mt 28,19 – Bibel in Gerechter Sprache)

Hört hin auf die Not und das Suchen der Menschen.
Wendet euch jedem Menschen zu, der dies wünscht.
Respektiert den anderen als selbstverantwortlichen Menschen, der weiss, was er sucht und braucht.
Bietet das, was ihr habt und könnt, dem anderen an.
Vielleicht könnt ihr nicht alle Wünsche erfüllen, aber das was ihr geben könnt, das gebt in Liebe, auch in Liebe zu euch selbst.
Der achtsame Blick, den Jesus uns lehrt gilt den anderen wie uns selbst.

So passt die Botschaft des Weltmissionssonntags doch sehr gut in unsere Zeit. Wir können z.B. auf Sr. Lea schauen, die mit den Massai unterwegs ist, und indem wir die Arbeit von missio unterstützen, unterstützen wir all jene, die den Menschen in ihrer Heimat beistehen und sie begleiten. Wir können zudem auch auf all jene schauen, die sich hier um die vielen vielen Flüchtlinge kümmern, die, von Krieg und Terrorismus vertrieben, ihre Hoffnung auf Europa setzen. Ob sie hier die Zukunft finden, die sie sich wünschen, das können wir nicht beurteilen, aber die Sicherheit und den Frieden, den können wir ihnen bieten. Es sind viele, die ihre Zeit und ihre Fähigkeiten, ihre Hilfe anbieten und im respektvollen Umgang mit den Menschen zeigen, dass eine andere Welt möglich ist.

Möge die Begegnung des Bartimäus mit Jesus uns ermutigen, unsere Begegnungen ähnlich zu gestalten.
Amen

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3 Antworten auf In der Begegnung mit Jesus sich selbst und die anderen neu sehen lernen – 30. Sonntag im Jahreskreis B / Weltmissionssonntag

  1. Walter sagt:

    Weltmission- Begegnung mit Jesus ?

    die Leere, das Vakuum- könnten wir sie nicht füllen ( mit den „verlorenen Schafen“),anstatt Zäune der ( Verlust-) Angst zu bauen ?

    Kommt nicht die (Flüchtlings-) Welt in der Person des leidenden Christus zu uns ?
    Müssten wir nicht,anstatt wegzurennen und die „Welt zu missionieren“, bleiben ?
    Uns h i e r dem Elend stellen ?
    Das Vakuum,die Leere füllen mit dem Brot ,das ER uns täglich -im Überfluss- schenkt ?

    • u.hahn sagt:

      Lieber Walter,
      der Gedanke, den ich vertiefen wollte zieht uns weg von den Orten, ob hier oder dort – hin zu dem Auftrag, den jeder Christ, jede Christin hat: Geh mit deinen Mitmenschen um, wie Jesus es getan hat – und das gilt eben für alle Menschen bis an die Ende der Erde.
      Ich glaube wir sind nicht dazu aufgefordert zu unterscheiden, wer „verlorenes Schaf“ oder welches Leid ganz besonders „der leidende Christus“ ist. Ich glaube auch nicht, dass die Arbeit von den Menschen z.Bsp. AUS Tansania IN Tansania, die wir durch unsere Spenden an das Hilfswerk missio unterstützen, ein „wegrennen“ ist.
      Ich bin fest davon überzeugt, dass wir in der globalisierten Welt auch die Welt im Blick haben müssen, wenn wir uns über unsere Nachfolge Jesu Gedanken machen. Dazu gehört der Blick auf uns selbst – bin ich nicht wie der Blinde, der immer die Begegnung mit Jesus sucht, um ihm dann nachzufolgen?
      Hochachtung und Dank allen, die sich hier um Benachteiligte kümmern und auch allen jenen, die woanders auf den Spuren Jesus an der Seite der Menschen unterwegs sind.

      • walter sagt:

        Religionskriege…

        zweifellos ist Gott in allem,was ist. So auch im Leid,das die „geoffenbarten“ Religionen und Fundamenalisten aller Art seit Jahrtausenden in blinder Wut und Gier anrichten.
        Und das nicht nur gegen „Heiden“, sondern auch untereinander:
        „Pax et iustitia…!“

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