Erschütterung zulassen und Krisensituationen durchstehen – 5. Fastensonntag B

Aus dem Evangelium nach Johannes, Kapitel 12
20 In jener Zeit traten einige Griechen, die beim Osterfest in Jerusalem Gott anbeten wollten,
21 an Philippus heran, der aus Betsaida in Galiläa stammte, und sagten zu ihm: Herr, wir möchten Jesus sehen.
22 Philippus ging und sagte es Andreas; Andreas und Philippus gingen und sagten es Jesus.
23 Jesus aber antwortete ihnen: Die Stunde ist gekommen, dass der Menschensohn verherrlicht wird.
24 Amen, amen, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht.
25 Wer an seinem Leben hängt, verliert es; wer aber sein Leben in dieser Welt gering achtet, wird es bewahren bis ins ewige Leben.
26 Wer mir dienen will, folge mir nach; und wo ich bin, dort werden auch meine Dienerinnen und Diener sein. Die mir dienen, wird der Vater ehren.
27 Jetzt ist meine Seele erschüttert. Was soll ich sagen: Vater, rette mich aus dieser Stunde? Aber deshalb bin ich in diese Stunde gekommen.
28 Vater, verherrliche deinen Namen! Da kam eine Stimme vom Himmel: Ich habe ihn schon verherrlicht und werde ihn wieder verherrlichen.
29 Die Menge, die dabeistand und das hörte, sagte: Es hat gedonnert. Andere sagten: Ein Engel hat zu ihm geredet.
30 Jesus antwortete und sagte: Nicht mir galt diese Stimme, sondern euch.
31 Jetzt wird Gericht gehalten über diese Welt; jetzt wird der Herrscher dieser Welt hinausgeworfen werden.
32 Und ich, wenn ich über die Erde erhöht bin, werde alle zu mir ziehen.
33 Das sagte er, um anzudeuten, auf welche Weise er sterben werde.

Autorin:
Sabine Mader 2Sabine Mader, Pastoralreferentin, verheiratet, zwei erwachsene Kinder, Klinikseelsorgerin im Klinikum Esslingen

 
Die Predigt:
Erschütterung zulassen – Krisensituationen durchstehen

Liebe Leserin, lieber Leser,
Jetzt ist meine Seele erschüttert. Was soll ich sagen: Vater, rette mich aus dieser Stunde?“ Welch ergreifende Worte von Jesus. Er ahnt oder weiß, dass Schreckliches auf ihn zukommt und versucht, diesen Weg anzunehmen, was ihm sichtlich schwer fällt. Die Leichtigkeit, die ihm bis jetzt durch seine innige Beziehung zum Vater eigen war, ist einer großen Schwere gewichen.

Solche Situationen kennen wir alle, Lebenspläne werden durchkreuzt und das eigene Schicksal beeinflusst auch das Leben der Menschen, die einem nahestehen. Eine Gruppe von Menschen – verwandt, befreundet – findet sich in einer Schicksalsgemeinschaft wieder, die gemeinsam versucht, dem Bedrohlichen irgendwie zu begegnen.

Schon dieser kleine Ausschnitt aus der Leidensgeschichte Jesu, den wir im heutigen Evangelium hören, zeigt uns viele verschiedene Rollen von Menschen in diesem Geschehen auf: Menschen von weither, die zufällig vorbeikommen, der engere Kreis um Jesus herum, von dem wir wissen, dass manche mutig mitgehen und andere voll Angst Abstand halten. Und die Menge, die dabeisteht und doch versucht, das Geschehen zu deuten, ohne zu verstehen, was wirklich geschieht.

Jesu Worte „Jetzt ist meine Seele erschüttert“ scheinen mir in der Situation all dieser Menschen sehr programmatisch zu sein. Wenn etwas erschüttert wird, gerät es in Bewegung, es ist nichts mehr wie vorher, ein Prozess wird in Gang gesetzt, der sich nicht mehr aufhalten lässt. Erschüttert versucht man, doch irgendwo noch Halt zu bekommen, auf Ressourcen zurück zu greifen.

Im Krankenhaus erlebe ich oft, dass die Kapelle ein Ort ist, an den sich erschütterte Menschen zurückziehen, um all das, was für sie nicht mehr zu fassen ist, vor diesen Gott zu bringen und in einer tröstenden, feierlichen Umgebung zur Ruhe zu kommen. Sie vertrauen diesem Gott, dass er ihnen Halt geben kann. Auch Jesus nimmt Kontakt auf zu seinem Vater. Er ist ehrlich zu sagen, wie schwer es ihm fällt, diesen Weg zu gehen, und doch bleibt seine Zusage aufrecht: ich gehe meinen Weg weiter für Deinen ganz großen Plan, zum Heil aller Menschen zu wirken. Gottes Antwort bleibt nicht aus. In der Stunde der tiefsten Erschütterung gibt es ein Ineinander-Eintauchen, das Kraft gibt weiterzugehen, um die göttliche Sehnsucht nach dem Heil aller Menschen zu erfüllen. Und in diese Zweisamkeit zieht Jesus sofort auch alle Menschen, die im Moment bei ihm sind, die zwar nicht verstehen, was geschieht und geschehen wird, die aber doch hören, dass etwas ganz Neues anbricht.

Wahrscheinlich reagiert jeder Mensch anders auf diese Zusage: viele lassen sich anstecken von Jesu Zuversicht, den schweren Weg auszuhalten. Manche zweifeln vielleicht daran, dass dieser Gott genug Kraft geben kann. Einige bleiben versteinert und erschüttert und nichts kann zu ihnen durchdringen. Und natürlich gibt es auch die, die lieber auf sich selbst vertrauen und einsam weiter kämpfen.

Es sind harte Worte, die Jesus spricht: Das Weizenkorn muss sterben; wer an seinem Leben hängt, wird es verlieren. Oft genug hat die enge Auslegung dieser Bilder dazu geführt, Leben wirklich gering zu achten. Für mich ist es aber die Aufforderung, sich wirklich treffen zu lassen von Situationen, die erschüttern, die das bisher Gelebte in Frage stellen, solidarisch zu sein mit Menschen in Krisensituationen und auch eigene Krisen nicht zu verdrängen, sondern versuchen, sie durchzustehen, die Erschütterung zuzulassen, die ein durchkreuzter Plan hervorruft. Natürlich gehört oft großer Mut dazu, sich auseinander zu setzen mit dem, was das Leben uns oft unvorbereitet zumutet. Die Versuchung zu verdrängen, auszuweichen, ist sehr verlockend. Aber es wird uns reiche Frucht versprochen, sogar das ewige Leben, wenn wir das große Wagnis annehmen, uns erschüttern zu lassen. Es sind Sternstunden für mich, wenn mir Menschen erzählen, wie stark und dankbar es sie gemacht hat, ihre Krisen anzunehmen und dann zu meistern. Es sind bewegende Zeugnisse, dass Gott auch heute noch Antwort gibt in der Erschütterung der Menschen.

Jetzt ist meine Seele erschüttert. Was soll ich sagen: Vater, rette mich aus dieser Stunde? Aber deshalb bin ich in diese Stunde gekommen. Vater verherrliche deinen Namen“ und sprich das Wort, das mir Kraft gibt und mich heilt.

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3 Antworten auf Erschütterung zulassen und Krisensituationen durchstehen – 5. Fastensonntag B

  1. Kähny sagt:

    das verlorene Mitleid..

    Haben wir nicht- ähnlich wie mit dem Krankenkassenbeitrag- mit der Kirchensteuer die persönliche Verantwortung,das Mitleid, delegiert ?
    An den Sozialkonzern Kirche ?
    An die Gesundheitsindustrie ?
    Eben an die „Profis“ ?

    Vielleicht finden wir durch die Erschütterung über den „Verrat der Profis“ (Missbrauch/Limburg,u.v.m.) zurück zum Heil- zu SEINER solidarischen Kirche…

    • Sabine Mader sagt:

      Ich distanziere mich von obigem polarisierenden Kommentar und fühle mich absolut missverstanden.
      Ich bin selbst Profi, werde für Seelsorge an Kranken bezahlt und bin trotzdem ehrlich solidarisch. Professionelle Hilfe muss delegiert werden.
      Mein Impuls war, das eigene Handeln zu hinterfragen und zu ändern, und sich nicht dahinter zu verstecken, die Fehler anderer anzuprangern… Und ich erlebe viele Menschen, die ihre persönliche Verantwortung leben. Kirche ist besser als es manche wahrhaben wollen.

      • Kähny sagt:

        “ Es hat gedonnert…!“ ( Joh 12,29)

        Das Weizenkorn ( die Kirche ?) muss sterben,um reiche Frucht zu bringen (ebd.12,24).
        Vielleicht erleben wir gerade diesen Prozess:
        ecclesia semper reformanda !
        „Habt keine Angst !“ ( Johannes Paul II.)

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