Im erbarmenden Blick – Palmsonntag 2023

Aus dem Passionsevangelium nach Matthäus, Kapitel 27
11 Als Jesus vor dem Statthalter stand, fragte ihn dieser: Bist du der König der Juden? Jesus antwortete: Du sagst es.
12 Als aber die Hohenpriester und die Ältesten ihn anklagten, gab er keine Antwort.
13 Da sagte Pilatus zu ihm: Hörst du nicht, was sie dir alles vorwerfen?
14 Er aber antwortete ihm auf keine einzige Frage, sodass der Statthalter sehr verwundert war.
15 Jeweils zum Fest pflegte der Statthalter einen Gefangenen freizulassen, den das Volk verlangte.
16 Damals war gerade ein berüchtigter Mann namens Barabbas im Gefängnis.
17 Pilatus fragte nun die Menge, die zusammengekommen war: Was wollt ihr? Wen soll ich freilassen, Barabbas oder Jesus, den man den Christus nennt?
18 Er wusste nämlich, dass man Jesus nur aus Neid an ihn ausgeliefert hatte.
19 Während Pilatus auf dem Richterstuhl saß, sandte seine Frau zu ihm und ließ ihm sagen: Habe du nichts zu schaffen mit jenem Gerechten. Ich habe heute seinetwegen im Traum viel gelitten.
20 Inzwischen überredeten die Hohepriester und die Ältesten die Menge, die Freilassung des Barabbas zu fordern, Jesus aber hinrichten zu lassen.
21 Der Statthalter fragte sie: Wen von beiden soll ich freilassen? Sie riefen: Barabbas!
22 Pilatus sagte zu ihnen: Was soll ich dann mit Jesus tun, den man den Christus nennt? Da antworten sie alle: Ans Kreuz mit ihm!
23 Er erwiderte: Was für ein Verbrechen hat er denn begangen? Da schrien sie noch lauter: Ans Kreuz mit ihm!
24 Als Pilatus sah, dass er nichts erreichte, sondern dass der Tumult immer größer wurde, ließ er Wasser bringen, wusch sich vor allen Leuten die Hände und sagte: Ich bin unschuldig am Blut dieses Menschen. Das ist eure Sache!
25 Da rief das ganze Volk: Sein Blut – über uns und unsere Kinder!
26 Darauf ließ er Barabbas frei, Jesus ließ er geißeln und lieferte ihn aus zur Kreuzigung.

Autorin:
csm_Gabriele_Kraatz_2015-05-13_EBO-MA_137n_fb567737d8Gabriele Kraatz, Diplomtheologin, Dekanatsreferentin in Heidenheim

 
Die Predigt:
Im erbarmenden Blick

Liebe Leserin, lieber Leser,
oftmals wird ja die Frage diskutiert: War der Tod Jesu überhaupt nötig? Brauchte Gott „Vater“ den Tod des „Sohnes“, um die Menschheit wieder anzunehmen. Für viele von uns steht da ein großes Fragezeichen. Andere sind davon überzeugt, durch den Sühnetod Jesu „gerettet“ zu sein. Das Warum des Todes Jesu ist eine wesentliche Frage unseres Glaubens. Auf diesem Hintergrund wird der Traum der Frau des Pilatus dementsprechend auch negativ, nämlich „vom Teufel kommend“ interpretiert, ( unter anderen M. Luther), der sich – wie sollte es anders sein – eines „Weibes bemächtigt habe“, um die Erlösung der Menschheit zu verhindern.

Aber zu Recht fragt man dieses Lohn-und-Strafe-Gottesbild an: Wer sind denn die Sünder, für die Jesus gestorben sein soll? Wer will einem in Dachau erstickten Kind sagen, dass Jesus für ihn/sie gestorben ist, wegen dessen Sünden? Gerade angesichts des Leids in der Welt muss sich eine Religion menschlich und empathisch erweisen. Sie muss darauf keine letztliche Antwort geben können, aber eine, die trägt, eine, die einen annehmbaren Umgang ermöglicht. Welche Möglichkeiten eröffnet der leidende Gottesknecht (Jesaja) für eine Handhabung des Leids?

Träume sind im Neuen Testament, auch bei Matthäus, immer eine Botschaft Gottes, denken wir an die Geburtserzählungen Jesu. Träume lassen die Welt durchsichtig werden auf das immer Größere im und über den Menschen. Nicht umsonst hat Freud den Weg der Träume als Königsweg der Selbsterkenntnis bezeichnet und C.G. Jung ausführlich über Traumsymbole geforscht. Matthäus sieht im Traum der Claudia eine gottgewollte Chance, einem grausamen Tötungswillen zu widersprechen. Pilatus aber beugte sich diesem aus Angst, Macht zu verlieren. Ein Schelm, der hier auch ein Genderthema sieht. Und wie so oft in unserer Welt, geht die Gewalt ihren Weg.

Claudia Procula – so wird später die zunächst namenlose Frau des Pilatus genannt. Die katholische Schriftstellerin Gertrud von le Fort hat sich von der Überlieferung zu ihrer Erzählung „Die Frau des Pilatus“ inspirieren lassen. Die Novelle versucht einen weiblichen Blick: Mitunter etwas sehr schwülstig erzählt die ehemalige Sklavin der Claudia einer christlichen Freundin derselben die Geschehnisse um die Kreuzigung und die weiteren Lebensjahre der Claudia. Immer wieder hört Claudia in Träumen die Passage aus dem Credo zunächst anklagend, dann mehr und mehr hoffnungsvoll: „Gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben“. Pilatus wird vom ungerechten Richter zum Zeugen. Zurückgekehrt nach Rom schließt sie sich den Christen an, ihr Mann muss dabei zusehen, wie sie im Circus den Märtyrertod stirbt.

Zentrales Thema ist der berührende erbarmungsvollen Blick Jesu, der herausfordern aber auch heilen kann. Es gibt diesen Satz von Dante: Wahre Liebe kann nicht unerwidert bleiben. Dem widerspricht die Novelle und ebenso der christliche Glaube. Wen der erbarmungsvolle Blick Christi selbst unter dem Kreuz trifft, „muss“ sich nicht öffnen, wird nicht automatisch „berührt“. Er oder sie steht aber in der Entscheidung! Das meint auch uns und unsere Welt: Eine tiefe achtsame Liebe kann auch gewaltigen (!) Widerspruch auslösen.

Das „Gesehenwerden“ im liebevollen annehmenden Blick kann auch Abwehr und Flucht auslösen. „Was willst Du von mir?“ Auf dieser Chiffre können wir die gesamte Leidensgeschichte anders lesen. Das müssen wir aushalten und ich denke, dass Frauen hier einen Erfahrungsvorsprung haben. Das zwingt uns nicht, Verletzungen immer weiter ausgesetzt zu bleiben. Wir müssen immer auch Lösungen finden, die der Gewalt stand halten oder Leben ermöglichen, manchmal im Gehen und Verlassen. Aber die Antwort Jesu im erbarmenden Blick weist den Weg: Weg von Sühnetoden, hin zu einem Verständnis von Erbarmen selbst in erlittener Gewalt, einen Weg raus aus Hass und einer Gewaltspirale, die selbst einen Gott Vater mitreißt. Der Glaube, dass letztlich – wenn auch nicht im Augenblick – die Liebe und das Erbarmen siegt, dass dies der einzige Weg zu Frieden und Verständnis ist, das dies in und außerhalb eines jeden Menschen täglich hart erarbeitet werden muss, ist wesentlich in der Lebensschule Jesu.

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